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Aggressive Rechte, widerstandsfähige Linke

Das Buch »Brasilien über alles« überlässt Jair Bolsonaro nicht allein die Bühne – das hilft, die Geschehnisse im Land besser zu verstehen  

Von Regina Reinart

Prägender Kopf der Linken im Land: Lula da Silva, Ex-Präsident und aktueller Präsidentschaftskandidat der Arbeiterpartei, hier unter einem Hut versteckt. Foto: PT - Partido dos Trabalhadores/Flickr , CC BY 2.0

Mit seinem Buch »Brasilien über alles« hat Niklas Franzen jüngst einen der bedeutendsten Beiträge zur Brasilien-Debatte im deutschsprachigen Raum vorgelegt. Überzeugende und eindrückliche Fallbeispiele bettet der Autor in einen historischen, kulturellen, wirtschaftlichen und soziopolitischen Abriss des Landes ein.

Im Zentrum steht zwar der »zweifach geschiedene, Knarre schwingende Rüpel Bolsonaro« – der nicht zuletzt auch in Folge einer Messerattacke kurz vor der Wahl in Juiz de Fora im Oktober 2018 zum Präsidenten gewählt wurde -, und dessen »Haudrauf-Politik«. Doch lässt der Autor keines der für das Brasilien der Gegenwart zentralen Themen aus: von der Regenwaldthematik bis zur kontrovers diskutierten Fußballweltmeisterschaft 2014 und der bis heute mit ihr verbundenen Vernachlässigung von Schulen und Krankenhäusern sowie der Unterlassung notwendiger Infrastrukturmaßnahmen. Auch die Rolle der Freikirchen und die Bedeutung der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 für das heutige Brasilien nimmt Franzen in den Blick.

All diesen Themen nähert sich der Autor durch die Darstellung von Lebenssituationen, akribische Hintergrundrecherche und auch Einordnung in den historischen Kontext an. Erschreckend liest sich die Bilanz der Bolsonaro-Regierung, die Franzen von Abschnitt zu Abschnitt zieht; so beispielsweise die Konsequenzen im Kulturbereich, wie die Kürzungen bei der nationalen Filmagentur ANCINE und deren erzwungene Umsiedlung nach Brasília. Jedes der acht Kapitel stellt außerdem eine Person der Zivilgesellschaft vor, was die Lektüre des Buches zu einer Begegnung mit konkreten Menschen macht (zum Beispiel Alessandra Korap vom indigenen Volk der Munduruku).

Franzen bringt Lulas Inhaftierung 2017 auch mit dessen Inhaftierung als Gewerkschaftsführer, 40 Jahre zuvor, in Verbindung.

Wir begegnen neben der Person Bolsonaro auch dem ehemaligen Präsidenten (1956-1961) und Gründer der Hauptstadt Brasília, Juscelino Kubitschek sowie dem Präsidenten der Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores (PT), Luiz Inácio Lula da Silva, genannt »Lula«, und der bislang einzigen Präsidentin Dilma Rousseff, ebenso von der PT. Franzen beschreibt das Amtsenthebungsverfahren gegen letztere mit dem unvergesslichen Auftritt von Bolsonaro, der im Namen des Folterers von Rousseff, Carlos Alberto Ustra, Chef der Geheimdienstbehörde, für dieses votierte. Er geht ebenfalls auf den Korruptionsfall »Lava Jato«, das Geldwäsche-Netz (2014) und den Konzern Odebrecht ein. Indem er nicht nur die Inhaftierung Lulas 2017 wegen des Vorwurfes der Korruption dokumentiert, sondern diese auch mit dessen Inhaftierung als Gewerkschaftsführer 40 Jahre zuvor in Verbindung bringt, gelingt es dem Autor, ein Gesamtpanorama des politischen Geschehens zu zeichnen.

Franzen setzt sich kritisch mit jedem einzelnen Staatsoberhaupt auseinander, nennt die Schlüsselmomente der letzten sechs Jahrzehnte und vermittelt durch einen chronologischen Aufbau und das Einbetten von Protagonist*innen ein realistisches wie auch lebendiges Bild des heutigen Brasilien.

Die zitierten Statements von Anhänger*innen der extremen Rechten lassen uns jeweils die Grausamkeit, die Ignoranz und das Chaos in der brasilianischen Gesellschaft erahnen. Der Autor zeigt damit auch: Brasilien ist ein gespaltenes, sowohl in den sozialen Medien als auch in den Straßen von scharfen Protesten geprägtes Land mit einer »aggressive(n) Rechte(n)« (Paulo Arantes) und einer widerstandsfähigen Linken. Und das wird es wohl mittelfristig auch bleiben.

Denn Franzen ist sich sicher: Der Bolsonarismus wird nicht verschwinden, unabhängig vom Wahlergebnis.

Regina Reinart

arbeitet als Brasilien-Referentin bei Misereor und hat lange selbst in dem Land gelebt.