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Herrschaft anders denken

Antonio Gramscis Begriff der Subalterne hilft in der Gegenwart, Klassen und globale Ungleichheiten zu verstehen

Von Robert Heinze

Schwarz-Weiß Porträt einer Person mit Locken und Brille
Oft zitiert, selten gelesen: der marxistische Theoretiker und Politiker Antonio Gramsci. Foto: Socialist Party Australia

Am 28. April starb der marxistische Historiker Ranajit Guha, Gründer und Mentor der indischen Subaltern Studies Group. Ihren Namen trug die Gruppe nach einem Begriff des italienischen Marxisten Antonio Gramsci, der für Guha ein wichtiger theoretischer Einfluss war. Wie marxistische Historiker in Europa zur gleichen Zeit interessierten sich auch die Subaltern Studies für Unterdrückte jenseits eines einheitlich gedachten Proletariats, für Kultur, Alltag und Widerstand. Aber sie gingen noch weiter: Der klassische Marxismus sei eurozentrisch und ungenügend, um die historische Entwicklung der indischen Gesellschaft zu erklären. Dennoch nahmen sie ihre wesentliche, theoretische Inspiration von einem europäischen Marxisten, allerdings einem, der selbst darauf bestanden hatte, dass marxistische (und leninistische) Analysemethoden ebenso wie politische Strategien jeweils an spezifische historische Kontexte angepasst werden mussten: Antonio Gramsci.

Wie marxistische Historiker in Europa zur gleichen Zeit interessierten sich auch die Subaltern Studies für Unterdrückte jenseits eines einheitlich gedachten Proletariats, für Kultur, Alltag und Widerstand.

Heute gehört Gramsci mit Sicherheit zu den meist zitierten Marxist*innen; aber gleichzeitig wird er selten wirklich gelesen. Das liegt zum einen am fragmentarischen, unabgeschlossenen Charakter seines Werks, zum anderen an einer komplizierten und lange Zeit verstümmelten, unfreiwillig oberflächlichen Rezeption.

Zentrale Begriffe, die er in seinen berühmten Gefängnisheften entwickelte – also den Notizheften, die der damalige Vorsitzende der italienischen KP systematisch, aber fragmentarisch im faschistischen Gefängnis führte – wurden in den 1960er und 1970er Jahren vor allem außerhalb Italiens nur auf der Grundlage von relativ kurzen übersetzten Auswahlbänden wahrgenommen. Erst seit den 1990er Jahren erschienen auch vollständige, historisch-kritische Ausgaben in anderen Sprachen als Italienisch.

Die deutsche Gesamtausgabe der »Gefängnishefte« besorgte der Verlag Das Argument bis 2002. Seitdem veröffentlicht er darüber hinaus Reader zu einzelnen Themen Gramscis, die mit viel editorischer Sorgfalt und ausführlichen Einleitungen den Weg in Gramscis Werk erleichtern. Kürzlich ist der Reader »Südfrage und Subalterne« erschienen, der einen neuen Blick auf die Rezeption des Subalterne-Begriffs ermöglicht, aber auch die Subaltern Studies – und die nach der berühmten Kritik von Gayatri Spivak darauf aufbauenden Postcolonial Studies – kritisch erweitern helfen kann.

Der italienische Süden

Subaltern, ein Begriff aus dem Militär (er bezeichnet einen untergebenen Offiziersrang), hat mit Gramsci als ein sozialwissenschaftlicher Begriff Karriere gemacht. Im Buch finden sich Paragrafen aus den »Gefängnisheften«, mit denen Gramsci ein Programm zur Historiografie der subalternen Klassen bzw. subalternen Gruppen (denn er benutzt diese Begriffe nie im Singular) entwickelt und fragmentarisch am Beispiel des staatlichen Einigungsprozesses Italiens im 19. Jahrhundert, dem Risorgimento, durchführt.

Der Band kombiniert diese Paragrafen mit Gramscis Texten aus der Zeit vor seiner Haft, die sich mit der sogenannten Südfrage in Italien befassen. Damit war das Problem der »Entwicklung« des bäuerlichen Südens Italiens gemeint, der im Gegensatz zum industrialisierten Norden des Landes als »rückständig« gesehen wurde. Gerade Gramsci verband damit nicht nur das Problem eines quasi-kolonialen, ökonomischen und politischen Verhältnisses des Nordens zum Süden des Landes, sondern auch die Frage der Mobilisierung der bäuerlichen Bevölkerung auf Seiten des Proletariats. Gramsci benutzte diese Begriffe wie auch andere immer in analytischer und strategischer Absicht.

Zentral ist dabei sein bereits 1926 – vor der Verhaftung – geschriebener, aber erst 1930 veröffentlichte Text »Einige Gesichtspunkte der Südfrage«. Der Aufsatz wurde für den Band neu übersetzt und von den Herausgeber*innen, Ingo Pohn-Lauggas und Alexandra Assinger, in den Kontext einiger anderer Schriften Gramscis gestellt. Vor allem die »Thesen von Lyon«, mit denen Gramsci und Palmiro Togliatti die strategische Neuausrichtung der Kommunistischen Partei Italiens im Exil begannen, werden von Pohn-Lauggas und Assinger mit der »Südfrage« in Verbindung gebracht. Die herrschenden Klassen in Italien, heißt es darin, hätten nicht wie anderswo den »traditionellen Kampf zwischen Industriellen und Agrariern« durchgemacht. Daher musste die industrielle Bourgeoisie des Nordens einen »ökonomischen Kompromiss« mit den südlichen Großgrundbesitzern eingehen, die alle von der Ausbeutung des Südens durch den Norden profitiert hätten.

Gegen andere Linke (Kommunist*innen und Sozialist*innen) besteht Gramsci daher auf der Notwendigkeit der Solidarität zwischen Industrieproletariat und Bäuer*innen, unter hegemonialer Führung des Proletariats. In seinem Artikel zur »Südfrage« und später in den entsprechenden Paragrafen der Gefängnishefte arbeitet er diese Analyse des quasi-kolonialen Verhältnisses zwischen Norden und Süden weiter aus: Der Süden sei auf einen »halbkolonialen Absatzmarkt« reduziert, die Bäuer*innen und Landarbeiter*innen besonderer Repression und Ausbeutung ausgesetzt, die einen »Arbeiterprotektionismus« im Norden ermögliche. Gleichzeitig sei eine Intellektuellenschicht (vor allem Beamte und Klerus) mit Vergünstigungen und der lockeren Rechtsanwendung in dieses System integriert, die ihnen die »Plünderung der örtlichen Verwaltungen« ermögliche.

Es ist kaum verwunderlich, dass diese Analysen für antikoloniale Intellektuelle wie Guha, deren Hoffnungen auf eine emanzipatorische, postkoloniale Politik von bürgerlich-nationalistischen Regierungen enttäuscht wurden, anschlussfähig waren. Allerdings zeigt der Reader auch, wie verkürzt diese Rezeption war, insbesondere die Aufnahme des Begriffs der Subalterne durch die Subaltern Studies.

Neuer Blick auf Unterdrückung

Gramsci spricht nur von subalternen Gruppen oder Klassen im Plural. Im Gegensatz zu Kategorien wie Arbeiter*innen, Bäuer*innen oder Proletariat, die durch ihre politökonomische Stellung und Kohärenz bestimmt sind, bezeichnen subalterne Gruppen ein unmittelbar politisches, dialektisches Verhältnis: Subalterne Gruppen sind allein durch ihr Verhältnis zu hegemonialen Gruppen bestimmt.

Nicht nur die Bäuer*innen des italienischen Südens oder Indiens können nach Gramsci subalterne Gruppen sein, auch Teile des Proletariats können in bestimmten historischen Konjunkturen subaltern sein. Diese Gruppen können eine Kohärenz nur durch ihre subalterne Position gegenüber einer jeweiligen hegemonialen Gruppe erhalten, denn sie sind intern durch ihre Zersplitterung charakterisiert. Dadurch ist ihnen die Möglichkeit verwehrt, zur kohärenten Klasse zu werden. Subalterne Gruppen können zwar auch widerständig agieren und Aufstände und Rebellionen durchführen, »erleiden« aber auch dabei »immer die Initiative der herrschenden Gruppen«.

Ebenso ist die Herausbildung subalterner Gruppen eng verbunden mit dem bürgerlichen »integralen Staat«, der in einer dialektischen Verbindung mit der Zivilgesellschaft steht. Die Zivilgesellschaft ist nicht der ergänzende Konsens zum Zwang des Staates. Der Staat ist in Gramscis Worten der »gesamte Komplex praktischer und theoretischer Aktivitäten, womit die führende Klasse ihre Herrschaft zu sichern vermag«, »umfasst für Gramsci nicht nur die Polizei und die Korporationen, sondern auch die Revolten des Pöbels und deren Befriedung.« (Stephen Thomas) Die subalternen Gruppen stehen also nicht außerhalb des Staates oder der Gesellschaft – und auch nicht außerhalb der Geschichte, sondern sie sind in ihrer Marginalisierung ein integraler, wenn auch zersplitterter Teil der Zivilgesellschaft.

Daran schließt sich ein weiteres Problem unseres heutigen Verständnisses der Subalterne an. Entgegen Gayatri Spivaks berühmter Formulierung sprechen die subalternen Gruppen nach Gramsci die ganze Zeit. Sie artikulieren sich nur auf Arten und Weisen, die nicht einfach innerhalb einer herrschenden – politischen und intellektuellen – Ordnung lesbar sind, weil sie nicht über eine einheitliche Ideologie und Ausdrucksweise verfügen.

Dies sind nur einige Beispiele des neuen Zugangs zu einem der wichtigsten, in der deutschen Rezeption aber wenig beachteten Begriff des italienischen Marxisten, die der neue Band ermöglicht. Wie der britische Soziologe Stuart Hall einmal schrieb, müssen Gramscis Begriffe »vorsichtig aus ihrem spezifischen, historischen Zusammenhang herausgenommen und mit besonderer Sorgfalt und Geduld in neuen Boden verpflanzt werden.« Der Gramsci-Reader ist nicht nur eine Lektürehilfe für an postkolonialen Studien Interessierte, sondern auch für alle, die im Sinne Edward P. Thompsons, Howard Zinns, Alf Lüdtkes oder Ranajit Guhas Geschichte von unten schreiben wollen, und alle, die über aktuelle Klassenkonstellationen diskutieren möchten. Mit Gramscis Verständnis von Subalternität lässt sich aber auch gut über die ungleiche Integration des Trikonts in den globalen Kapitalismus nachdenken.

Robert Heinze

ist Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Paris und forscht zur Zeitgeschichte Afrikas.

Alexandra Assinger, Ingo Pohn-Lauggas (Hrsg.): Antonio Gramsci. Südfrage und Subalterne – Gramsci Reader Studienausgabe. Argument, Hamburg 2023. 300 Seiten, 22 EUR.