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|ak 677 | Alltag

When Black Lives Don’t Matter

Auch 20 Jahre nach dem Mord an Achidi John verweigert sich die Hamburger Stadtgesellschaft der Aufarbeitung und Empathie

Interview: Carina Book

Auf den Tag genau 20 Jahre nach dem Mord an Achidi John wurde der damalige Innenminister Olaf Scholz zum Kanzler gewählt. Das Abendblatt kürte unterdessen Professor Klaus Püschel zum Hanseaten des Jahres. Foto: Copwatch Hamburg

Am 12. Dezember 2021 jährt sich der Folter-Tod von Achidi John zum 20. Mal. (ak 465) Er starb durch einen Brechmitteleinsatz am Institut für Rechtsmedizin des Hamburger Universitätsklinikums Eppendorf. Daniel Manwire ist Teil der Initiative zum Gedenken an Achidi John und spricht darüber, wie struktureller Rassismus zu diesem Mord führte und die Aufarbeitung bis heute verhindert

20 Jahre nach dem Tod von Achidi John gibt es keine Entschuldigung, keine Aufarbeitung und keine Konsequenzen. Wo fängt man an, diese Geschichte zu erzählen?

Daniel Manwire: Die Geschichte vom Mord an Achidi John beginnt nicht am 12. Dezember 2001 und endet dort auch nicht. Sie beginnt schon in den 1990er Jahren mit dem sogenannten Hamburger Polizeiskandal und setzt sich bis heute in einer grundlegenden Struktur rassistischer Polizeigewalt im Kontext der sogenannten Drogenpolitik in Hamburg fort. Schon 1996 gab es einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum sogenannten Hamburger Polizeiskandal. Da ging es um gewalttätige, rassistische Exzesse in der Hamburger Polizeiwache 11. Dort hat es Scheinerschießungen im Freihafen und Misshandlungen von Schwarzen Personen gegeben. Wer sich damit beschäftigt, stellt fest, dass es um eine grundlegende Struktur, einen strukturellen Rassismus geht. Und das hätte damals schon aufgearbeitet werden müssen.

Ab wann wurden die Brechmitteleinsätze durchgeführt?

Zwischen 2001 und 2006 sind 530 meist Schwarze Männer im Institut für Rechtsmedizin der Brechmittel-Folter unterzogen worden. 20 von ihnen unter Einsatz von expliziter Gewalt. Herr Püschel, der damalige Leiter des Instituts für Rechtsmedizin, hat dazu in der Wissenschaftsausschusssitzung am 17. Dezember 2001 gesagt: »Das Winken mit der Magensonde hat sich durchaus als etwas Sinnvolles erwiesen.« Das ist das, was man von einem guten mittelalterlichen Folterknecht erwartet, der seine Instrumente nur zu zeigen braucht.

Daniel Manwire

macht Bildungsarbeit zu den Themen Rassismus und NS. Als Teil der Initiative zum Gedenken an Achidi John und der Initiative in Gedenken an Yaya Jabbi treibt ihn an, dass es keine weiteren Toten der rassistischen Drogenpolitik in Hamburg geben darf.

Wie kamen die Männer überhaupt in das Institut für Rechtsmedizin?

Sie sind irgendwo im Stadtgebiet, meist in St. Pauli oder St. Georg oder der Schanze, von der Polizei festgenommen worden. Sie wurden dann mit Blaulicht zum Krankenhaus gefahren, denn das Ziel der Polizei war eine Beweismittelsicherung, nämlich vermeintlicher Kokain-Kügelchen, die diese Personen angeblich heruntergeschluckt haben sollen. Und das musste schnell passieren, bevor sie vom Magen in den Darm gelangen. Sie wurden also an einen Ort gebracht, an den man eigentlich geht, wenn man Hilfe sucht: das Krankenhaus. Es muss ein sehr einsamer Moment sein, wenn man merkt, dass in diesen kalten, neon-beleuchteten Räumen niemand mehr da ist, der einen schützen wird. Polizeiliche Gewalt ist alltäglich und im öffentlichen Raum immer präsent, aber trotzdem haben wir doch das Gefühl, dass es sowas wie Schutzräume gibt und einer davon ist ein Krankenhaus.

Das muss furchtbar gewesen sein.

Man muss sich nur einmal daran erinnern, wie es war, als man selbst das letzte Mal erbrochen hat. Das ist unangenehm und peinlich. Wenn man sich jetzt vorstellt, man tut es nicht freiwillig und es sind Leute im Raum, die einem nicht vertraut sind und die zwingen einen, diesen Brechmittel-Saft zu trinken. Und dann warten alle darauf, dass man sich nun endlich übergibt. Der eigene Körper ist den Beteiligten völlig egal. Es kommt nur darauf an, was man in seinem Körper hat. Es ist quasi eine Hausdurchsuchung im eigenen Leib. Und das Erbrochene ist wichtiger als man selbst. Darin steckt eine ganz grundlegende Demütigung und Traumatisierung, die zu benennen gar nicht so leicht fällt – die aber von der Hamburger Mehrheitsgesellschaft gar nicht zur Kenntnis genommen wird.

Ein Brechmitteleinsatz ist quasi eine Hausdurchsuchung im eigenen Leib.

Das ist bemerkenswert, denn diese Einsätze waren doch kein Geheimnis.

Es ist in aller Öffentlichkeit, vor allem im Hamburger Abendblatt, verhandelt worden. Die CDU hat es gefordert. Die SPD hat es eingeführt. Eine grüne Wissenschaftssenatorin hat dem Verfahren ihr O.K. gegeben. Der Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts hat zusammen mit der Staatsanwaltschaft ein Verfahren entwickelt. Dann hat er dieses Verfahren der Klinikleitung vorgelegt und schließlich der Wissenschaftssenatorin zur Prüfung gegeben. Alle Parteien, die 2001 im Parlament vertreten waren, haben dem zugestimmt.

Gab es dazu keinen Widerspruch?

Doch, den gab es. Auch wenn heutzutage so getan wird, als wäre es eine völlig exotische Position, diese Brechmitteleinsätze zu kritisieren und als Folter zu bezeichnen. Die Hamburger Ärztekammer und der Deutsche Ärztetag haben schon damals gesagt, dass Brechmitteleinsätze ethisch nicht zu vertreten sind. Frank Ulrich Montgomery, der Chef des Marburger Bundes war und heute Präsident des Weltärztebundes ist, hat ebenfalls gesagt, dass Brechmitteleinsätze nicht zu vertreten sind. Und schließlich hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, dass es sich bei den Brechmitteleinsätzen um einen Verstoß gegen die Folterkonventionen handelt. Wenn selbst eine solche Ballung weißer Gremien zu dem Schluss kommt, dass das nicht geht, dann ist es schon eine bemerkenswerte Minderleistung, dass dies über 20 Jahre von allen Beteiligten und der Hamburger Stadtgesellschaft weggewischt wird. Da kann man nur feststellen: Black Lives mattern in Hamburg halt häufig nicht.

Hat es irgendwelche Konsequenzen gegeben?

Es wurde niemand dafür belangt. In einer Sondersitzung des Innenausschusses zum Tod von Achidi John stellten alle Beteiligten gemeinschaftlich fest, dass das so alles in Ordnung war. Ich zitiere mal aus dem Protokoll. Der damalige Wissenschaftssenator Dräger sagte: »Die Dokumente zeigen mir zumindest in der Gesamtschau in meiner Einschätzung, dass bei der Vorbereitung der Brechmitteleinsätze und bei der Bestimmung der Regeln gründlich und fachgerecht gearbeitet worden ist. Davon habe ich mich auch noch einmal überzeugt, dass ich persönlich da war. Dieses Institut für Rechtsmedizin ist nicht ein Institut, das sich nur mit Leichen beschäftigt, sondern sehr wohl auch eine Ambulanz.« Und Herr Kusch von der Schill-Partei sagte daraufhin: »Ich war auch selbst im UKE und habe mir an dem Abend, als der Tatverdächtige schon auf der Intensivstation lag und am nächsten Tag verstorben ist, sowohl das Institut für Rechtsmedizin als auch die intensivmedizinische Betreuung angeschaut und die Patienten gesehen. Die grundsätzliche Notwendigkeit auf diese Weise Strafverfahren zu gestalten, indem nämlich Beweismittel sichergestellt werden als Basis eines jeden rechtsstaatlichen Verfahrens, war vor und nach dem Ereignis das Gleiche. Da hat sich nichts geändert.« Sie stellen also nach dem Tod von Achidi John fest, dass das alles seine Ordnung und Richtigkeit hatte.

Kein Zweifel, zu keinem Zeitpunkt?

Zum Ende der Ausschusssitzung passierte noch etwas Bemerkenswertes, denn es wurde sich sogar offiziell bedankt und sich nach dem Befinden der beteiligten Mediziner*innen erkundigt. Dazu sagte der damalige Wissenschaftssenator Dräger: »Vielleicht noch mal etwas Persönliches zum Schluss: Wirklich einen Dank an Herrn Professor Püschel und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ich glaube, Sie haben sich nicht gedrängt, diese Aufgabe zu übernehmen. Sie sind darum gebeten worden, als staatlichen Auftrag diese Aufgabe zu übernehmen. Und Sie tun das mit Pflichtbewusstsein und Sorgfalt.« Dann kommt Herr Petersen von der SPD hinterher: »Zunächst möchte ich mich dem Dank von Herrn Dräger an Herrn Professor Püschel anschließen. Ich denke, wir alle sind Ihnen dankbar für Ihre ganz tolle Arbeit.« Es geht hier um eine gemeinschaftlich begangene Straftat. Der Ablauf wurde genau beschrieben. Und da sitzt die verfasste Hamburger Stadtgesellschaft, berät das Ganze und das Parlament tut, was es tun muss: Es bedankt sich bei den Staatsdiener*innen. So geht struktureller Rassismus.

Was müsste für ein würdiges Erinnern und Gedenken geschehen?

Erinnern geht dem Gedenken voraus. Erinnern bedeutet erstmal das Sichern von Wissen, Informationen und Geschichten, bevor sie komplett vergessen sind. Und dem geht voraus, die abscheulichen Dinge, die da passiert sind, aufzuarbeiten. Mit Erschrecken muss ich feststellen, wie wenig diesbezüglich in Hamburg passiert ist. Mir geht es darum, den strukturellen Rassismus deutlich zu machen, der letztlich zum Tod von Achidi John geführt hat. Es ist struktureller Rassismus und darüber hinaus auch institutioneller Rassismus aufseiten der Polizei, aufseiten des UKE, aber eben auch im Parlament gewesen. Ich bin sehr froh über die Arbeit der Initiative zum Gedenken an Achidi John, weil dort Erinnerungen zusammengetragen und Daten gesichert und damit über die Zeit gerettet wurden. Dieses Wissen steht der Hamburger Stadtgesellschaft nun zur Verfügung, um den Mord an Achidi John aufzuarbeiten, damit irgendwann ein echtes würdiges Erinnern und Gedenken möglich wird.

Carina Book

ist Redakteurin bei ak.