analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 683 | International

Mit Wahllisten gegen den Kreml

Die russische Linke leidet unter verschärfter Verfolgung, sucht aber weiter nach Möglichkeiten oppositionellen Handelns

Von Katja Woronina

Zwei Männer in Anzug und Hemd gehen aneinander vorbei in entgegengesetzte Richtungen auf einer Straße oder EInkaufspassage
Wohin geht die russische Linke (nicht im Bild)? Seit Kriegsbeginn wird über die richtige Richtung diskutiert. Foto: Tatiana El-Bakri / Flickr, CC BY-SA 2.0

Grundsatzdebatten zu führen, ist das Steckenpferd vieler Linker. Besonders gut lässt es sich diskutieren, wenn man keine politische Verantwortung für die vertretenden Positionen übernehmen muss. Entsteht als Konsequenz aus heftigen Debatten die eine oder andere neue Splittergruppe, facht das Diskussionen miteinander oder übereinander zusätzlich an. Den 24. Februar erlebte der Großteil der russischen Linken jedoch als Zäsur. Infolge der Invasion russischer Truppen in der benachbarten Ukraine galt es, sich selbst auf den Prüfstand zu stellen und abzuklären, wer eine eindeutige Antikriegshaltung vertritt, und wer mit Hilfe theoretisierender Spitzfindigkeit das militärische Vorgehen der russischen Führung rechtfertigt.

Zumindest in den Metropolen, wo etliche Zusammenhänge mit sozialistischer oder kommunistischer Ausrichtung existieren, fanden in den ersten Kriegswochen unzählige Treffen statt – allerdings fast ausschließlich im überschaubaren Kreis. Denn innerhalb kürzester Zeit sorgte der staatliche Repressionsapparat für eine Erweiterung der Vollmachten zur Strafverfolgung von Kriegsgegner*innen, was bei öffentlichen Veranstaltungen zu unkalkulierbaren Risiken für die Teilnehmer*innen führt.

Trotz des Schocks angesichts des gewaltvollen Vorgehens der russischen Führung gelang es durch den Austausch, sich inhaltlich zu sortieren und über gemeinsame Perspektiven nachzudenken. Anders formuliert: Der Krieg hat die russische Linke in einen Zustand pragmatischer Kooperationsbereitschaft versetzt, wie es in den vergangenen Jahren selten der Fall war.

Doch es gab auch Rückschläge, die deutliche Grenzen aufzeigen. Im April wurde Kirill Ukraintsev festgenommen, der Gründer der Gewerkschaft Kurier. Als Vertretung für arbeitsrechtlich nur wenig geschützte Kurier*innen zu Beginn der Corona-Pandemie entstanden, entwickelte sich die Gewerkschaft als durchaus effektives Mittel zur Organisierung Beschäftigter und Durchsetzung ihrer Interessen. Ukraintsev befindet sich in Untersuchungshaft wegen wiederholten Verstoßes gegen das Versammlungsrecht. Der einem breiten Publikum bekannte Publizist Boris Kagarlitsyj wurde zum »ausländischen Agenten« erklärt, andere Linke müssen sich wegen angeblicher Diskreditierung der russischen Armee verantworten, allerdings bislang nur nach dem Administrativrecht. Bei Wiederholung drohen Strafermittlungen und lange Haftstrafen.

Krisenlawine im Anmarsch

Des gestiegenen Verfolgungsdrucks sind sich Aktivist*innen sehr wohl bewusst. Gleichzeitig sei mit einer »lawinenartigen Krisenentwicklung« zu rechnen, wie es Kagarlitskyj in seinem Telegramkanal ausdrückt. Sprich, eine Verschlechterung der Einkommenssituation von Arbeitnehmer*innen und Entlassungen dürfte bevorstehen, was linken und in gewerkschaftlichen Fragen versierten Organisationen ein breites Feld an Handlungsmöglichkeiten bietet und Zugänge zu Beschäftigten eröffnet, für die kollektives und solidarisches Agieren bislang kaum Thema war. Doch seien es auch der Gestus, die Sprache und die eigene soziale Herkunft, mit der sich Linke, zumal mit Hochschulbildung, den Kontakt zu ärmeren Bevölkerungsschichten verbauten, wie ein anonymer Beitrag in einem linken Antikriegs-Telegramkanal zu bedenken gibt.

Trotz der extremen Einschränkungen biete sich durch die Beteiligung an Wahlen ein legaler Rahmen für die Verbreitung linker Inhalte über das eigene beschränkte Umfeld hinaus.

Als weiteres Handlungsfeld sieht ein Teil der emanzipatorischen Linken Wahlen. Das mag merkwürdig klingen angesichts eines von kritischen Stimmen weitgehend gesäuberten Staatsapparats und des gezielten Ausschlusses breiter Teile der Bevölkerung von politischer Teilhabe. Eine Säule, auf die sich der russische Machtapparats stützt, ist die systematisch betriebene Entpolitisierung der Bürger*innen – durch Propaganda, Bevormundung, Manipulation und Ausschaltung unliebsamer politischer Figuren. Das bezieht sich längst nicht nur auf bekannte Oppositionelle wie den zu einer hohen Haftstrafe verurteilten Aleksej Nawalnyj. Doch trotz der extremen Einschränkungen biete sich durch die Beteiligung an Wahlen ein legaler Rahmen für die Verbreitung linker Inhalte weit über das eigene beschränkte Umfeld hinaus, ist sich ein Teil der russischen Linken sicher.

Vor den Dumawahlen im vergangenen Sommer demonstrierte eine Reihe oppositioneller Politiker*innen in Moskau, dass sich trotz beschränkter Ressourcen mit einer ausgeklügelten Strategie und mit dem Rückhalt durch lokale Initiativen beachtliche Wahlergebnisse erzielen lassen. Sogar der Einzug ins Parlament schien greifbar. Die meisten Stimmen aller oppositionellen Kandidat*innen in Moskau konnte der langjährige linke Aktivist Michail Lobanow auf sich vereinen. Ohne offensichtlichen Wahlbetrug durch die erstmalige Anwendung des E-Votings, also elektronischer Stimmabgabe, hätte er ein Direktmandat erzielt. An seiner Stelle zog mit Jewgenij Popow einer der bekanntesten regierungstreuen Fernsehpropagandisten in die Duma ein. Eine Anfechtung der Wahlergebnisse vor Gericht scheiterte.

Neue linke Wahlinitiative

Entmutigen ließ sich das Team um Lobanow nicht. Im Gegenteil verschaffte seine Wahlkampagne vielen hauptsächlich jüngeren und politikunerfahrenen engagierten Leuten wertvolle Erfahrungen. Lobanows Beispiel spornte andere an, sich selbst in der Rolle als Abgeordnete zu versuchen – nicht in der Duma, aber zumindest im eigenen Wohnbezirk. Deren Befugnisse sind zwar begrenzt, aber allein durch den formalen Status ergeben sich Möglichkeiten zur Interaktion mit den Bewohner*innen und der Bezirksverwaltung. Es ist ein Einstieg in die Politik und Mittel zur Repolitisierung der Bevölkerung. Zuvor hatte dieses Konzept bereits Aleksandr Samjatin erfolgreich eingesetzt, der als linker Aktivist 2017 in einem der Moskauer Bezirke angetreten und gewählt worden war.

Zusammen mit Lobanow startete Samjatin noch im Winter ein Projekt, das Interessierte zur Kandidatur bei den für kommenden September anstehenden Bezirkswahlen animieren und befähigen sollte. Dutzende hatten sich gemeldet, der Kriegsbeginn hat manche von ihren Überlegungen abgebracht, andere wollen es trotzdem versuchen.

Paradoxerweise kommt der Linken die Emigration zahlreicher Aktivist*innen aus dem liberalen Lager zugute, unter ihnen auch der umstrittene Politiker Maksim Katz. Russische Linke haben in weit geringerer Zahl das Land verlassen, sei es, weil sie weniger verdienen oder weil ihnen die internationale Unterstützung fehlt, die Vertreter*innen von Menschenrechtsorganisationen oder Journalist*innen liberaler Oppositionsmedien zuteil wird. Katz war selbst Bezirksabgeordneter in Moskau und Mitglied der liberalen Oppositionspartei Jabloko, wurde aber im Jahr 2020 ausgeschlossen. Er stellte in der Vergangenheit eigene Wahllisten zusammen und sorgte für Konkurrenzsituationen in Wahlkreisen, in denen andere Oppositionskandidat*innen gute Chancen auf einen Sieg gehabt hätten. Aber Katz lehnte Kooperationsmodelle immer ab. Jetzt suchen in Russland verbliebene ehemalige Mitstreiter*innen von ihm sogar den Kontakt zu Lobanows und Samjatins Struktur.

Die richtet sich zunächst nicht nur an Linke. Auch kann im Rahmen des Wahlkampfes keine offene Antikriegsposition vertreten werden – ein amtierender Bezirksabgeordneter sitzt bereits in Untersuchungshaft wegen angeblicher Diskreditierung der russischen Streitkräfte. Repolitisierung heißt aber, dass über die Zusammenarbeit mit zukünftigen Abgeordneten und deren Wähler*innenschaft linke und emanzipatorische Inhalte transportiert werden können. Denn unter den derzeitigen Bedingungen, wo nicht nur bestimmte Äußerungen mit Bezug zum Krieg kriminalisiert werden, sondern die Behörden praktisch jede öffentliche Kundgebung mit fadenscheinigen Begründungen unterbinden – und sei es wegen Corona-Ansteckungsgefahr, obwohl in Moskau die Maskenpflicht längst abgeschafft wurde –, braucht es dringend alternative öffentliche Räume für politisches Handeln.

An der Basis der Kommunist*innen rumort es

Der Linke Michail Lobanow trat im September 2021 formal als Kandidat der kommunistischen Partei KPRF an, obwohl er kein Parteimitglied war und ist. Seine politischen Überzeugungen decken sich nur rudimentär mit der von Neostalinismus und imperialistisch-patriotischen Haltungen geprägten Parteiführung. Ohne eine Partei im Rücken aber wäre seine Kandidatur wegen hoher Hürden für Parteilose bereits gleich zu Beginn gescheitert. In Bezug auf die Moskauer Bezirkswahlen spielt die KPRF ohnehin keine Rolle, weil die Kommunist*innen Lokalpolitik auf der untersten Ebene weitgehend vernachlässigen.

Gewisse Ressourcen hält die Partei dennoch bereit. Jewgenij Stupin, der als KPRF-Abgeordneter im Moskauer Stadtparlament sitzt, findet Wege, seine Kritik am russischen Angriffskrieg öffentlich zu machen. So wandte er sich mit einer Anfrage an das russische Verteidigungsministerium mit der Bitte um Klärung, auf welcher Grundlage die Buchstaben Z und V, die sich als Siegessymbole für den zerstörerischen Feldzug gegen die Ukraine etabliert haben, Verwendung fänden. Aus dem Ministerium hieß es dazu, es handele sich nicht um eine offizielle Symbolik. Stupin ermunterte andere, das von ihm veröffentlichte Antwortschreiben bei etwaigen Gerichtsprozessen zu nutzen.

Im Übrigen rumort es selbst innerhalb der KPRF. Während die Parteiführung versucht, ihre Mitglieder auf Kriegslinie zu halten, wollen sich einzelne Abgeordnete und ein Teil der Basis in den Regionen dem nicht fügen. Im Komsomol, der Jugendorganisation der Partei, sprechen viele von einem imperialistischen Krieg, den sie nicht befürworten.

Katja Woronina

ist Journalistin und lebt in Moskau.