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Schläger in der Stadt

Welche Perspektive haben die Proteste in Serbien?

Von Bartholomäus Laffert

Man sieht Menschen, die während eines Straßenprotestes Schach spielen.
Die Bewegung sucht auch nach einer Strategie, wie die Schachspieler hier, mitten im Protestgetümmel im Juli in der Stadt Novi Sad. Foto: picture alliance / NurPhoto | Maxim Konankov

Wenige Tage nach der Eskalation steht Tamara Jeremić vor dem Rathaus ihrer Heimatstadt Valjevo, einer Kleinstadt rund 100 Kilometer südöstlich von Belgrad. Über dem Eingang weht die serbische Fahne, die Fenster im Erdgeschoss und im ersten Stock sind eingeschlagen und nur notdürftig mit Pappe verdeckt. »Das waren unsere Leute«, sagt Tamara. »Hier haben sie ihrer Wut Ausdruck verliehen, nachdem wir tagelang terrorisiert wurden.«

Seit mehr als zehn Monaten protestiert die Zivilbevölkerung in Serbien gegen das Regime von Präsident Aleksandar Vučić. Auslöser war der Einsturz des Bahnhofsvordachs in der zweitgrößten Stadt Novi Sad, bei dem Anfang November letzten Jahres 16 Menschen ums Leben kamen. Anstatt den Unfall aufzuklären, versuchte die Regierung von Beginn an, die Ursachen zu vertuschen. Die Proteste forderten deshalb Aufklärung und ein Ende der Korruption. Inzwischen lautet die zentrale Forderung der von Studierenden angeführten Bewegung: Neuwahlen – und zwar so bald wie möglich.

Nach einem ruhigeren Sommer eskaliert die Gewalt seit einigen Wochen erneut. In der Kleinstadt Vrbas, 160 Kilometer nördlich von Belgrad, überfielen regierungsnahe Schläger eine Versammlung von Regimegegner*innen. Unter dem Hashtag »Wir sind keine Boxsäcke« riefen Demonstrierende im ganzen Land zur Gegenwehr auf, griffen Büros der Regierungspartei SNS an und setzten mehrere davon in Brand. Manche Medien warnen bereits vor einem drohenden Bürgerkrieg.

»SNS Mörder«

Besonders hart hat es Valjevo getroffen. Die Spuren sind unübersehbar: Auf den Asphalt sprühten Unbekannte »SNS Ubice« (»SNS Mörder«) und »1312«. Auf Tamaras Oberarm zeichnet sich ein großflächiges lila-grünes Hämatom ab. Zum Gespräch hat sie eine Freundin mitgebracht; seit einer Woche verlässt sie ihr Haus nicht mehr allein.

Am Mittwoch, den 13. August, griffen vermummte Hooligans ein Café von Regierungsgegner*innen an. Am Tag darauf ging Tamara auf die Straße, um gegen die Gewalt zu protestieren. Die Zahnmedizinstudentin war als Sanitäterin im Einsatz, wie so oft. Sie trug eine rote Weste und einen großen Erste-Hilfe-Rucksack. Doch erneut eskalierte die Situation: Hunderte Polizisten stellten sich den Demonstrierenden in den Weg – nicht nur aus Valjevo, sondern auch aus den umliegenden Städten.

»Plötzlich sind sie auf uns losgegangen«, sagt Tamara. Sie hätten Schockgranaten und Tränengas in die Menge gefeuert, die Menschen auseinandergetrieben. Beim Versuch zu fliehen sei eine ältere Demonstrantin gestürzt. »Ich wollte sie verarzten«, sagt sie. In dem Moment seien behelmte Polizisten auch auf sie losgestürzt. »Ich rief: ›Bitte nicht mich, ich leiste Erste Hilfe, hier ist eine Verletzte!‹ Es war ihnen egal. Sie schlugen auf mich ein.« Und sie ist nicht die einzige, die an diesem Tag zur Zielscheibe geworden ist: Am selben Abend zerrten Polizisten willkürlich junge Männer und minderjährige Jugendliche aus Spielotheken und Bäckereien, um sie auf der Straße zusammenzuschlagen. 

Auf den Demonstrationen in Belgrad und anderswo waren zuletzt immer wieder auch nationalistische Sprechchöre zu hören.

Auch am nächsten Tag, dem Freitag, ging der Angriff auf die Kleinstadt weiter. Trotz ihrer Verletzung vom Vorabend war Tamara Jeremić erneut auf einer Demonstration, als ein Freund sie anrief. Unter Schock schilderte er, dass er beobachtet habe, wie mehrere Männer in die Autowerkstatt ihres Vaters eingedrungen seien – alle maskiert, bewaffnet mit Baseballschlägern, Äxten und Brecheisen. Sie hätten den Vater und einen zufällig anwesenden Kunden zusammengeschlagen. Als Tamara kurz darauf im Spital eintraf, lagen beide schwer verletzt in der Notaufnahme. Ihrem Vater wurden Hand und Schienbein gebrochen. Außerdem erlitt er Kopfverletzungen, die genäht werden mussten. Währenddessen marodierten die Täter weiter und griffen ein weiteres Café an.

Hybride Aufstandsbekämpfung

Alle Angegriffenen hatten sich in den Monaten zuvor entweder auf der Straße oder auf Social Media mit den Regierungsgegner*innen solidarisiert. Die Politikwissenschaftlerin und Generalsekretärin des Dachverbands der serbischen Jugendorganisationen (Koms), Milica Borjanić, erklärt, das Regime setze auf eine hybride Taktik: einerseits Polizisten, andererseits paramilitärische Schlägertrupps, sogenannte Batinaši. »Viele dieser Männer profitieren vom System oder haben Angst, nach einem Machtwechsel für Vergehen während der letzten zehn Jahre zur Verantwortung gezogen zu werden«, so Borjanić. 

Bereits in der Vergangenheit waren solche SNS-nahen Schlägertrupps im Einsatz, etwa beim illegalen Abriss von Wohnsiedlungen, um Platz für das umstrittene Belgrade-Waterfront-Stadtentwicklungsprojekt zu schaffen, oder zur Niederschlagung von Protesten gegen den Lithiumabbau im westserbischen Jadartal. Nun scheint es so, als solle auch die aktuelle Protestwelle nach dem Bahnhofsunglück von Novi Sad durch Angriffe dieser inoffiziellen Sicherheitskräfte erstickt werden. Männer, die im Frühjahr einer Studentin mit Baseballschlägern den Kiefer gebrochen hatten, wurden zuletzt von Präsident Vučić persönlich begnadigt.

Die Gewalt in Valjevo endete nach den drei Tagen, von denen Tamara berichtet, nicht. Erschüttert von den brutalen Bildern reisten am Samstag, den 16. August, Tausende Demonstrierende aus dem ganzen Land in die Kleinstadt. Anders als an den Vortagen sicherten diesmal keine Polizeiketten die Parteizentrale. Stattdessen übertrugen regierungsnahe Sender live von der Demonstration. Die Kameras zeigten, wie aufgebrachte Protestierende die SNS-Zentrale in Brand setzten und die Fenster des Gebäudes der Staatsanwaltschaft sowie des Rathauses einschlugen. Niemand versuchte, die Menge aufzuhalten. Die Bilder gingen um die Welt, auch europäische Medien berichteten. Viele Beobachter*innen vermuten: Vučić habe diese Szenen bewusst provoziert. Im Fernsehen erklärte er: »Sie wollten in Valjevo Menschen verbrennen, sie warfen Molotowcocktails.« Es sei nur eine Frage der Zeit, bis tatsächlich jemand zu Tode komme.

Von außen betrachtet wirkt die erneute, scheinbar grundlose Gewalteskalation auch wie ein Zeichen dafür, dass Vučićs Zeit an der Macht ihrem Ende entgegengeht. An Toten oder blutigen Bildern kann auch er kein Interesse haben – schließlich will er 2027 die Expo in Serbien ausrichten und sich dabei als stabilisierender Staatsmann präsentieren.

Was kommt nach Vučić?

Doch wie könnte es nach Vučić weitergehen? Diese Frage stellen sich derzeit viele. Klar ist: Die Protestbewegung, die in serbischen Medien noch immer meist als Studierendenbewegung bezeichnet wird, findet in weiten Teilen der Bevölkerung Unterstützung – bei Arbeiter*innen ebenso wie bei Akademiker*innen, auf dem Land ebenso wie in den Städten. Nur die über 65-Jährigen halten mehrheitlich zu Vučić. Sollten tatsächlich Wahlen stattfinden, planen die Studierenden, mit einer eigenen Liste anzutreten, deren Mitglieder sie selbst bestimmen wollen. Laut aktuellen Umfragen könnte eine solche Liste auf rund 54 Prozent der Stimmen kommen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob linke Parteien überhaupt antreten sollten. Bojan Terzić von der Organisation Solidarity etwa forderte die Opposition zuletzt dazu auf, sich von den Wahlen zurückzuziehen: »Es ist absolut inakzeptabel, dass die Opposition den Studierenden Mandate wegnimmt. Die Studierenden tun das, weil die Opposition unfähig ist und in 13 Jahren nichts erreicht hat. Sie wollen praktisch hinter ihr aufräumen und faire Wahlen ermöglichen«, schrieb er Anfang August in einem Post auf Instagram. 

Doch wer am Ende auf dieser Liste stehen soll, ist unklar. Denn die Bewegung ist ideologisch stark zersplittert. Auf den Demonstrationen in Belgrad und anderswo waren zuletzt immer wieder auch nationalistische »Aco, Shiptare«-Sprechchöre zu hören, eine Beschimpfung Vučićs als Albaner, die seine vermeintlich zu nachgiebige Kosovo-Politik attackiert. Aus den Nachbarschaftsversammlungen (Zborovi) kam hingegen Kritik daran. Das Balkan Solidarity Network erklärte: »Wir dürfen unsere Augen nicht vor der Homophobie, dem Nationalismus, dem Rassismus und anderen reaktionären Ideen verschließen, die in die Bewegung eingedrungen sind.« Nur wenn es der Bewegung gelingt, solche Positionen zurückzudrängen, besteht die Hoffnung, dass sich in einem Serbien nach Vučić tatsächlich grundlegend etwas verändern kann.

Bartholomäus Laffert

ist freier Journalist im Selbstlaut-Kollektiv, lebt in Belgrad und berichtet seit zehn Monaten für deutschsprachige Medien über die Protestbewegung in Serbien.