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|Thema in ak 670: Klassenvirus

Diagnose Kapitalismus

In der Poliklinik in Hamburg-Veddel werden Menschen nicht nur medizinisch versorgt

Interview: Carina Book

Drei PPlakate mit den Aufschriften "Meine Miete hat Fieber", "Meine Wohnung hat Luftnot" und "Mein Konto hat Durchfall"
Plakatreihe der Poliklinik Veddel. Foto: Poliklinik Veddel

Wie wirkt sich die Corona-Krise im ärmsten Stadtteil Hamburgs aus?«, fragten wir vor einem Jahr Aktive aus der Poliklinik Veddel. Schon damals zeichnete sich ab, dass sich soziale Ungleichheit auch in gesundheitlicher Ungleichheit ausdrücken würde. Doch bis heute gibt es kaum Daten dazu, die die sozialen Determinanten von Gesundheit in den Blick nehmen.

Was sind soziale Determinanten von Gesundheit?

Philipp Dickel: Das sind eigentlich die Ursachen der Ursachen. Im neoliberalen Dogma wird dir vermittelt, dass du dich falsch verhältst und deswegen krank bist. Du rauchst, du bewegst dich nicht, du ernährst dich falsch. Natürlich hängen Bewegung und Ernährung mit Gesundheit zusammen. Aber: Hat man überhaupt Zeit, Sport zu machen? Hat man Geld, sich gut zu ernähren? Hat man eine Wohnung, die Stressfreiheit ermöglicht? Letztlich sind die sozialen Determinanten genau die Faktoren, die dein Verhalten beeinflussen und die gesellschaftlich bedingt sind. Deswegen müssen sie auch gesellschaftlich verhandelt werden. Es ist vielfach wissenschaftlich bewiesen worden, dass diese sozialen Faktoren einen wesentlich größeren Einfluss auf Gesundheit haben als das individuelle Verhalten.

Habt ihr den Eindruck, dass sich Corona auf der Veddel noch mal stärker verbreiten konnte als anderswo?

Philipp Dickel: Ja, meinem Eindruck nach schon. Und die zuletzt veröffentlichten kleinräumigen Inzidenzen belegen das auch. Was allerdings fehlt, sind Daten zu dem Zusammenhang zwischen einem erhöhten Risiko sich zu infizieren und den sozialen Lebensbedingungen. Andererseits ist ziemlich einleuchtend, dass ein Virus dort bessere Bedingungen vorfindet, wo es aufgrund von beengten Wohnverhältnissen quasi unmöglich ist, sich bei einer Infektion zu isolieren. Es war auch immer eine Forderung von uns, dass es eine Art von Quarantäne-Hotels geben muss, damit sich Leute isolieren können.

Jella Behrens: Dazu kommt, dass die meisten Veddeler*innen nicht im Homeoffice arbeiten können. Viele arbeiten auf dem Bau. Es gibt hier etwa zwölf Gerüstbaufirmen, eine Kupferhütte und auch den großen Amazon-Standort. Manche arbeiten auch in der Reinigungsbranche. Das heißt: Jeden Tag mit dem ÖPNV auf die Arbeit fahren. Auf der Veddel gibt es abgesehen von der Poliklinik keine Testmöglichkeiten, auch nicht für Schnelltests.

Die meisten Veddeler*innen können nicht im Homeoffice arbeiten. Viele arbeiten auf dem Bau. Es gibt hier zwölf Gerüstbaufirmen, eine Kupferhütte und auch den großen Amazon-Standort.

Jella Behrens

In Deutschland erheben nur die Bundesländer Bremen und Berlin Zahlen zum Zusammenhang von sozialer Situation und Corona-Erkrankungen. Habt ihr irgendeine Erklärung dafür?

Philipp Dickel: Ich würde sagen, es ist politisch gewollt, dass diese Zahlen nicht erhoben und veröffentlicht werden. Ein oft gehörtes Argument ist auch, dass man diese Zahlen nicht veröffentlichen würde, um Stigmatisierungen zu vermeiden. Das ist natürlich ein Scheinargument, denn jede*r weiß ja eigentlich, dass sich ärmere Menschen häufiger infizieren. Dazu kommt, dass die Erzählung von den türkischen Großhochzeiten als Pandemietreiber durch solche Studien ganz schnell in Frage stünde. Vermutlich würde dann nämlich deutlich, dass zum Beispiel die Arbeit bei Amazon eher pandemietreibend ist.

Gibt es international Unterschiede, wie mit diesen Daten umgegangen wird?

Jella Behrens: Es gibt internationale Forschungen, die die stärkere Betroffenheit von ärmeren Menschen deutlich belegen. Im Vereinigten Königreich und in den USA zeigen die Zahlen, dass Menschen in ärmeren Stadtteilen oder ärmeren Bevölkerungsschichten häufiger an Corona erkranken und auch sterben. Bemerkenswert ist auch, dass Afro-Americans in den USA weniger häufig geimpft sind im Vergleich zur weißen Bevölkerung. Es zieht sich wie ein roter Faden durch: Mehr Infektionen, höhere Sterberate, weniger Impfungen.

Philipp Dickel: Wenn man diese Studien in Deutschland hätte, könnte man ja auch über Public Health Maßnahmen diskutieren. Und das hätte weitreichende Konsequenzen für unser Gesundheitssystem.

Warum spielen diese sozialen Determinanten in der Debatte in Deutschland so wenig eine Rolle?

Philipp Dickel: Das hat etwas mit Wissenschafts-Traditionen zu tun, denn in angelsächsischen und auch lateinamerikanischen Ländern spielen Sozial-Epidemiologie und Public Health eine viel größere Rolle. In der Sozial-Epidemiologie und in Public Health kommen unterschiedliche Expertisen wie Medizin, Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft oder Ökonomie zusammen. In Deutschland sind ja in der Öffentlichkeit fast nur Virolog*innen wahrnehmbar. Sozial-Epidemiolog*innen oder Public Healther dagegen kaum. Selbst beim RKI ist die Abteilung für Sozial-Epidemiologie total klein. Sie wird wissenschaftlich in Deutschland stark vernachlässigt. Seit einiger Zeit stoßen wir mit einem Pilotprojekt, der Community Health Nurse, in diese Lücke und versuchen zumindest in der Praxis Public Health mit Primärversorgung zu verbinden.

Was ist eine Community Health Nurse?

Jella Behrens: Viele Untersuchungen zeigen, dass sozial benachteiligte Menschen häufig nicht durch die herkömmlichen gesundheitlichen und medizinischen Angebote erreicht werden. Die Etablierung einer Community Health Nurse zielt daher auf einen niedrigschwelligen Zugang zur Gesundheitsversorgung und -vorsorge ab und hat auch einen Fokus auf Setting und Gemeinwesen.

Was meint ihr, wenn ihr sagt, dass ihr einen »an der Lebenswelt der Menschen orientierten Präventionsbegriff« entwickeln wollt?

Philipp Dickel: Es wird in der Wissenschaft breit vertreten, dass Prävention, die sich ausschließlich an individuellem Verhalten orientiert, fehl läuft. Schwierig ist, dass es in Deutschland nur wenig Erfahrung damit gibt, Prävention an der Lebenswelt der Menschen auszurichten. Und wenn man ehrlich ist, haben wir diese Schwierigkeiten bei allen Bemühungen auch. Wir sind gut gestartet mit einer Mieterinitiative. Da hat sich neben der Problematisierung der schlechten Wohnverhältnisse und des Schimmelbefalls in vielen Wohnungen auch ein Empowerment eingestellt. Das ist ganz wichtig in der Prävention, denn nachweislich sind empowernde Stadtteile auch gesündere Stadtteile.

Wie gelingt das mitten in einer Pandemie?

Jella Behrens: Unter Corona-Bedingungen ist das natürlich sehr schwierig geworden. Wir haben am Anfang der Pandemie mit einem Präventions-Projekt im Bereich der psychischen Gesundheit begonnen und festgestellt, dass es einen großen Bedarf gibt. Unüblich ist daran, dass hier psychische Gesundheit in der Gemeinschaft im Stadtteil diskutiert und verhandelt wird. Das hat ganz gut geklappt, weil das auch digital umsetzbar war. Trotzdem muss ich sagen: Gerade im Bereich der Prävention fehlen die realen Begegnungen schon sehr.

Du hast eingangs erwähnt, dass es gerade in Deutschland besonders schwerfällt, lebensnahe Präventionskonzepte umzusetzen. Im Vorfeld der Gründung der Poliklinik habt ihr euch viele Projekte im Ausland angeschaut. Habt ihr aus anderen Ländern Positivbeispiele mitnehmen können?

Philipp Dickel: Ein Orientierungspunkt sind für uns auf jeden Fall die kanadischen Community-Gesundheitszentren, die im Windschatten der Bürgerrechtsbewegung entstanden sind und ihre Anfänge schon vor 30 oder 40 Jahren hatten. Die Herausforderung war, dass es kaum einen Sozialstaat gab. Sie haben schon damals klargemacht, dass die Ursache von Krankheit häufig auch in der sozialen Ungleichheit zu suchen ist. Diagnose: Kapitalismus. Und die Therapie dagegen muss dann Solidarität und egalitäre Gesellschaftsformen heißen. Der Ansatz der kanadischen Gesundheitszentren war es, auf Community-Ebene solidarische Infrastrukturen zu schaffen.

Man muss kein Revolutionär sein, um zu erkennen, dass die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit der entscheidende Faktor ist, um die gesundheitliche Ungleichheit zu bekämpfen.

Philipp Dickel

Findet man solche solidarischen Strukturen auch auf der Veddel?

Philipp Dickel: Bei allen Schwierigkeiten gibt es hier starke Communities. Insofern ist es auch ein sehr lebenswerter Stadtteil. Die Veddel war immer schon postmigrantisch geprägt. Es war immer ein Ankommensviertel und die Menschen sind stolz darauf.

Jella Behrens: Als der einzige Supermarkt auf der Veddel abgebrannt ist, war das eine große Katastrophe. Wir haben dann sehr schnell wieder diese Corona-Einkaufs-Hotline von der ersten Welle wieder aktiviert und es haben sich direkt 250 Menschen gemeldet, die bereit waren, für ihre Nachbar*innen mit einzukaufen.

Es gab also eine Zeit lang keine Lebensmittelversorgung in einem so großen Stadtteil?

Philipp Dickel: Die Veddel ist ein »Food Desert«. Das muss man sich wirklich prototypisch vorstellen, wie es in der Public-Health-Literatur beschrieben wird: Es fehlt an einer guten Nahversorgung mit Lebensmitteln. Viele Dinge sind auf der Veddel nicht zu bekommen. Man muss eine weite Strecke fahren, um etwas zu besorgen. Es ist ein wichtiger gesundheitspolitischer Aspekt, auch für eine gute Infrastruktur und Versorgung im Viertel zu kämpfen.

Was bräuchte es noch für eine gesundheitsförderliche Umgebung?

Jella Behrens: Ein Beispiel für eine gute Krankheits-Präventionsmaßnahme wäre ein kostenloser ÖPNV. Das ergibt nicht nur umweltpolitisch Sinn, sondern ermöglicht Mobilität, und das ist wiederum eine gute Prävention gegen Vereinsamung.

Philipp Dickel: Auch die steigenden Mieten der letzten Jahrzehnte stellen ein Armuts- und damit ein Gesundheitsrisiko dar – nicht nur auf der Veddel. Inzwischen geben viele zwischen 50 und 60 Prozent ihres Einkommens für die Miete aus. Wie soll man sich da gesundes Essen leisten? Insofern muss man Maßnahmen wie den Berliner Mietendeckel auch als eine gesundheitspolitische Maßnahme verstehen. Man muss kein Revolutionär sein, um zu erkennen, dass die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit der Faktor ist, um die gesundheitliche Ungleichheit zu bekämpfen.

Die Politklinik auf der Veddel. Foto: Iren Dymke

Poliklinik Veddel

Das Gesundheitskollektiv der Poliklinik besteht aus einem 25-köpfigen, multiprofessionellen Team. Darunter sind Sozialarbeiter*innen, Pfleger*innen, Ärzt*innen, Jurist*innen, Hebammen, Sozialpädagog*innen, Sozial- und Gesundheitswissenschaftler*innen und Psycholog*innen. Ihre Arbeit besteht aus medizinischer Versorgung, sozialer und psychologischer Beratung und Gemeinwesenarbeit. Gesundheitsprävention im Sinne der Poliklinik berücksichtigt nicht nur das individuelle Verhalten der Menschen, sondern auch die Umstände, in denen sie leben. Die Situation am Arbeitsplatz, Diskriminierung oder fehlende Mobilität werden als wichtige Gesundheitsaspekte anerkannt und mitbearbeitet. Die Poliklinik Veddel und Gesundheitskollektive in Dresden, Leipzig und Berlin haben sich zu einem Poliklinik-Syndikat zusammengeschlossen. Gemeinsam erarbeiten sie konkrete Alternativen zum bestehenden Gesundheitssystem. Phillip Dickel ist Teil der hausärztlichen Versorgung in der Poliklinik. Jella Behrens arbeitet vor allem in der Präventionsarbeit und Fördermittelakquise. Beide haben Poliklinik auf der Veddel mitgegründet.