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|Thema in ak 667: Zehn Jahre Aufstand

»Der 14. Januar 2011 – unsere erste Pride«

Die Massenbewegung 2010/ 11 war auch Urknall des gegenwärtigen LGBTIQ-Aktivismus in Tunesien

Von Tarek Shukrallah

Khookha McQueer setzt sich für LGBTIQ-Rechte ein. Foto: Khookha McQueer

Ich treffe Khookha McQueer das erste Mal in den Vereinsräumen des queerfeministischen Frauenkollektivs Chouf in Tunis. Mit etwa 20 Teilnehmerinnen diskutiert sie über »genderbinarys« (»Zweigeschlechtlichkeit«), ihre eigene Lebensrealität und die der anderen im Raum. Khookha McQueer ist die wichtigste Dragqueen Tunesiens und zugleich die wohl sichtbarste Aktivist*in für die Belange von LGBTIQ im Land.

Es ist Anfang März 2019, etwa eine Woche vor dem Mawjoudin Queer Film Festival – Nordafrikas einzigem queeren Filmfest. Drei Tage, die sich eher wie eine Pride anfühlen, inmitten des Stadtzentrums und in unmittelbarer Nähe zur Avenue Habib Bourguiba – dem Epizentrum der tunesischen Revolution 2010 und 2011. Alle gezeigten Filme sind aus dem Globalen Süden und auch das Begleitprogramm ist politisch: antikolonial, queerfeministisch und links. Khookha war selbst lange Teil von Mawjoudin, der queeren Organisation, die das Festival organisiert. Inzwischen hat sie sich unabhängig gemacht. Sie tanzt Bauchtanz, macht politische Performancekunst.

Chouf (»Sieh«) und Mawjoudin (»Wir existieren«) sind zwei der vier größeren LGBTIQ-Organisationen, dem Zuhause queerer Sub- und Widerstandskultur, in Tunesien. Die anderen beiden heißen Damj (»Integration«) und Shams (»Sonne«). Sie alle setzen sich für die Belange von LGBTIQ im Land ein: sozial, kulturell, juristisch und politisch. Chouf veranstaltet ein feministisches Filmfestival, organisiert Selbstverteidigungskurse und Bildungsveranstaltungen für FLINT.

Neben dem jährlichen Filmfestival engagiert sich auch Mawjoudin politisch, leistet Opfern des kolonialhistorischen Strafrechtsparagrafen §230 (1) kostenlosen Rechtsbeistand, bietet kostenlose psychologische Beratung für mittellose Queers und organisiert Veranstaltungen zur sexuellen Bildung. Damj ist eine schwulenbewegte Organisation. Auch sie unterstützt die mehrheitlich schwulen und transfemininen Opfer der Verfolgung Homosexueller, schafft Unterstützungsangebote und Hilfen, insbesondere für Schwule aus den unteren Schichten und im strukturschwachen Süden des Landes. Shams gestaltet immer wieder international sichtbare Kampagnen für LGBTIQ in Tunesien, betrieb einige Zeit ein Onlineradio und leistet ebenfalls Rechtsbeistand für Opfer von §230.

Kinder der Revolution

Trotz teilweise erheblicher Differenzen in der politischen Zielsetzung eint die vier Organisationen und auch Khookha McQueer ihr bewegungspolitischer Urknall. Sie sind alle Kinder der Revolution, die am 17. Dezember 2010 in Reaktion auf die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid ausbrach und sich im gesamten Land ausbreitete. Die Aufstände beendeten am 14. Januar 2011 die seit 1987 andauernde Herrschaft Zine El-Abidine Ben Alis und leiteten eine demokratische Transition ein.

Die Revolution führte zu einer explosionsartigen Entwicklung zivilgesellschaftlicher Sphären. Wo zuvor die Gewerkschaft UGTT (Union Générale Tunisienne du Travail) und die feministische Organisation ATFD (Association Tunisienne des Femmes Démocrates) Beispiele nur weniger, politisch überaus eingeschränkter und im Falle der UGTT zuweilen regierungsnaher Organisationen widerständiger Zivilgesellschaft waren, sprossen nun zahlreiche politische Vereine und Organisationen aus dem Boden. In nur wenigen Monaten nach der Revolution wurden in Folge der Deregulierung von Versammlungs-, Vereinigungs- und Vereinsrechten mehrere tausend neue zivilgesellschaftliche Organisationen registriert. Aus dem zuvor klandestin agierenden Netzwerk Damj wurde daraufhin die erste offiziell registrierte queere Nichtregierungsorganisation.

In einem Gespräch berichtet mir Belhassen (2), ein Aktivist der Gruppe: »LGBTIQ waren von Beginn an Teil der Revolution. Sie demonstrierten, waren auf den Straßen. Schon zuvor waren wir überall. Diese Revolution kam ja nicht aus dem Nichts, nahm ihren Anfang nicht wirklich erst am 17. Dezember 2010. Die Revolution hat eine lange Geschichte.«

Stonewall und Proteste der Arbeiter*innen

Ein Teil dieser Geschichte sind etwa die Proteste an den Minen in Gafsa 2008, bei denen Arbeiter*innen, widerständige Gewerkschafter*innen, junge Arbeitslose und ihre Familien, Lehrer*innen und viele andere gegen die miserablen Arbeitsbedingungen, Korruption und Unterbezahlung im staatseigenen Phosphorwerk demonstrierten und von der Polizei brutal bekämpft wurden. Belhassen sieht die Entstehung der heutigen LGBTIQ-Bewegung in dieser Protesttradition.

Ein weiterer Bezugspunkt ist, wie wohl für die meisten queeren Bewegungen weltweit, der Stonewall-Riot in den USA. Auf die Frage nach der konkreten Rolle von Queers während der Proteste von 2010 und 2011 grinst Belhassen und antwortet: »Kurz nachdem Ben Ali gestürzt war, forderte alle Welt, dass wir nun unsere ersten Demonstrationen für LGBTIQ-Rechte oder eine Pride oder so etwas organisieren sollten. Dabei hatten wir unsere erste Pride bereits. Es war der 14. Januar, der Tag, an dem Ben Ali verschwand und wir die größte Demonstration in der Geschichte Tunesiens erlebten. Hunderte LGBTIQ waren dort. Darum sagen wir, wir hatten längst unsere erste Pride.« Immer wieder hatten queere Menschen Regenbogenflaggen und Peace-Fahnen mit zu Demonstrationen genommen. Sie begriffen sich jedoch eher als Teil einer breiten sozialen Bewegung für die Befreiung Tunesiens von der Diktatur und für Demokratie und Teilhabe denn als eine sich formierende LGBTIQ-Bewegung. Für Belhassen auch eine Frage der Prioritäten.

Auch Khookha McQueer erinnert sich an die Tage der Revolution: »LGBTIQ waren da. Einige sichtbar als LGBTIQ, andere nicht. Sichtbarkeit ist eben auch eine Frage der Sicherheit. Auch in der Revolution, bei den Demonstrationen und Riots, bestand Gefahr. Aber nach dem 14. Januar wurden LGBTIQ endlich sichtbar, schwenkten die Regenbogenfahne bei Veranstaltungen.« Zeugnis dieser entstehenden Bewegung und ihrer neuen Sichtbarkeit sind die vielen neuen Bündnisse und Strukturen, die vielen Räume und das hohe Mobilisierungspotenzial.

Seit 2012 feiert ein breites Bündnis den »Internationalen Tag gegen Homo- und Transfeindlichkeit« (IDAHOT) am 17. Mai, eingerahmt von einer politischen Erklärung, die von vielen lokalen NGOs gezeichnet wird. 2019 unterstützen etwa auch die feministische ATFD und die wichtigste Menschenrechtsorganisation des Landes, »Ligue Tunisienne des Droits de l’Homme« (LTDH), die Erklärung. Immer wieder richten sich LGBTIQ- und andere NGOs an die Gesellschaft, die internationale Öffentlichkeit oder die UN. Ein Etappensieg ist die Arbeit der Kommission zur Harmonisierung des Strafrechts mit dem verfassungsmäßigen Antidiskriminierungsgesetz (COLIBE), die auch die Abschaffung des §230 auf das politische Tableau gebracht hat. In seinem 2019 erschienenen Werk über die koloniale Geschichte der Kriminalisierung Homosexueller in Tunesien schreibt der Menschenrechtsaktivist Ramy Khouili: »In nur acht Jahren schufen LGBTQ-Aktivist*innen eine lautstarke, lebhafte und zunehmend organisierte LGBTQ-Bewegung, wo vorher keine existierte.

Tarek Shukrallah

ist Politikwissenschaftler*in, politische*r Referent*in und Aktivist*in in migrantischen bzw. antirassistischen sowie queeren Bewegungen und betreibt die digitale Skill-sharing-Plattform mit Blog partizipieren.org.

Anmerkungen:
1) Gesetz zur Kriminalisierung homosexueller Handlungen, das in erster Linie gegen transfeminine Menschen, Schwule und auf Verdacht angewendet wird.
2) Name geändert.

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