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|Thema in ak 667: Zehn Jahre Aufstand

Viele Jahre und 18 Tage

Als Anfang 2011 Millionen Ägypter*innen demonstrierten, ging der Sturz Mubaraks ganz schnell – ein Zufall war diese Bewegung nicht

Von Tarek Shukrallah

Am 25. Januar 2011 begannen in Kairo die Proteste gegen Hosni Mubarak, am 11. Februar musste er zurücktreten. Was zwischen diesen Daten liegt, kann man eine Revolution nennen. Oder? Collage: KD

Am 25. Januar machten sich Ägypter*innen auf, um sich selbst, ihr Gemeinwesen, und eine ägyptische Nation neu zu erschaffen. Tot seit über 30 Jahren, brach die politische Sphäre aus dem Aufstand der jungen Frauen und Männer des Landes hervor, kampfbereit, gleich der Athene, die der Stirn des Zeus entsprungen war. Sie kam beinahe unbemerkt. Wie ein Blitz an einem klaren Himmel fand sich Ägypten inmitten einer Revolution wieder, die so gewaltig, so erstaunlich und anders war als alles, was das Land seit Menschengedenken gesehen hatte, ihre wohl einzige historische Referenz die Revolution von 1919 gegen die britische Kolonialherrschaft.« (1) Dies schrieb der 2019 verstorbene ägyptische Journalist und marxistische Intellektuelle Hani Shukrallah am 3. Februar 2011 auf Al-Ahram Online.

Es war der Tag nach dem konterrevolutionäre Schlägertrupps und Polizeibeamte in Zivil die friedlich demonstrierenden Massen auf dem Tahrir Platz und in den umgebenden Straßen mit Wurfgeschossen und Waffen attackiert und sogar das Ägyptische Museum, die größte Sammlung altägyptischer Artefakte, beraubt hatten. Die Angreifer waren Schergen des Regimes. Ihr Angriff forderte hunderte Verletzte, auch einige Tote. Ein verzweifelter Akt scheidender autokratischer Eliten, die ihre längst verlorene Macht zu erhalten versuchten. Tags zuvor, am 1. Februar, hatten beim »Marsch der Millionen« allein in der Kairoer Innenstadt etwa zwei Millionen Menschen friedlich demonstriert, im ganzen Land noch deutlich mehr. Es war der einstweilige Höhepunkt der 18-tägigen Revolutionswelle, die am 11. Februar zur Absetzung des Autokraten Hosni Mubarak führte. Unter der 30-jährigen Regierung Mubaraks war das autoritäre Staatsprojekt in Ägypten zugunsten einer oligarchischen Klasse ausgebaut worden.

Mehlmangel und Wahlfälschung

Bei einem Besuch in Kairo im Herbst 2010 ist für mich spürbar, dass das alles nicht mehr lange so weitergehen kann. »Es ist wie vor der französischen Revolution, Arme und Arbeiter*innen können sich ihr Brot kaum noch leisten«, wird mir damals berichtet. Tatsächlich gab es, ausgelöst durch illegale Verkäufe, Engpässe in der Lieferung von staatlich subventioniertem Mehl. Wenig später, am 28. November 2010, kam es zur massivsten Wahlfälschung in der bisherigen Geschichte Ägyptens. Dabei sei das konkrete Ergebnis ohnehin kaum relevant, kommentierte Hani Shukrallah einen Tag vor Beginn der Wahlen: »Im Parlament geht es in diesem Land in erster Linie um Klientelismus. Die Regierungspartei ist in der Tat wenig mehr als ein massives klientelistisches Netzwerk, während das Parlament das wichtigste, wenn auch keineswegs das einzige Instrument zur Ermöglichung dieses Netzwerks ist. Würdenträger verschiedenster Art und Bedeutung, von milliardenschweren Wirtschaftsmagnaten in Armani- (oder Savile-Row-)Anzügen bis hin zu Oberhäuptern in traditionellen (English-Wool-)Kaftanen, agieren als Vermittler zwischen einer gigantischen, herzlosen, unzulänglichen und charakteristisch brutalen Regierung mit ihrem ineffizienten und charakteristisch brutalen Staatsapparat und der Bevölkerung.«

Zu diesem Zeitpunkt war die politische Organisierung einer neuen Jugendbewegung längst vorangeschritten. Sie vereinte die politischen Lager von der radikalen Linken bis hin zu den liberalen Teilen der Muslimbrüderjugend mit dem Ziel des Sturzes der Autokratie und Oligarchie. Seit Monaten war es in Reaktion auf den Polizistenmord an dem 28-jährigen Khaled Said am 6. Juni 2010 zu massiven Protesten gekommen. Er wurde zum Symbolbild, dem ersten Märtyrer der Revolution, sein Gedenken ein Mobilisierungsruf: »We are all Khaled Said!«

Straßenblockade mit Graffiti um die Ecke des Tahrir Platzes. Während der Revolution entsteht eine lebhafte Streetart-Kultur, die sich den öffentlichen Raum um den Tahrir Platz und die alte Kairoer Innenstadt aneignet. Foto: Tarek Shukrallah

Wichtige Bezugspunkte der Jugendbewegungen von 2011 waren zudem die Kifaya-Bewegung (deutsch: »es reicht«) und die Bewegung des 6. April. Kifaya entstand vor den Präsidentschaftswahlen von 2005 um gegen eine weitere Amtszeit Hosni Mubaraks zu mobilisieren. Über die Jahre organisierte Kifaya Proteste, Flashmobs, Lesekreise. Die Aktivist*innen verteilten Flugblätter, verbreiteten Informationen und Aufrufe gezielt auch in den unteren Schichten und in Kairos Armenvierteln. Kifaya wurde von verschiedensten Akteuren des demokratischen Lagers und aus unterschiedlichen sozialen Schichten heraus getragen.

Die Bewegung des 6. April wiederum bezog sich auf die Generalstreiks von Arbeiter*innen, überwiegend aus der Textilbranche, in Mahalla im Jahr 2008. Die Arbeiter*innen forderten bessere Löhne, Arbeitsplätze, Bildungsgerechtigkeit, den Ausbau öffentlicher Transportmittel, Zugang zu medizinischer Versorgung, Wohnraum, ein Ende von Polizeigewalt und Folter. Die Proteste wurden von der Polizei gewaltsam beendet, viele Protestierende dabei verletzt, einige getötet. Die Bewegung des 6. April knüpfte an Kifaya und ihre Strategien an. Sie wurde zu einer wesentlichen Akteurin in der Organisation der Proteste des 25. Januars 2011. Das Regime hatte den Tag als Feiertag zu Ehren von Polizei und Sicherheitskräften ausgerufen – eine Schmähung aller, die unter Gewalt, Folter und Korruption dieser Behörden zu leiden hatten. Gezielt verbreiteten die Jugendbewegungen Informationen und Aufrufe. Besonders in den unteren Schichten und Armenvierteln durch Flugblätter und mündliche Kommunikation.

Kein »Arabischer Frühling«

Während in der internationalen Öffentlichkeit von »Arabischem Frühling«, »Arabellion« oder »Jasminrevolution« die Rede war (und ist), illuminiert der historische Blick die systematischen Mobilisierungen, und die zugrunde liegende Überschneidung materieller und struktureller Bedingungen der Aufstände.

Die Revolutionen in Ägypten und Tunesien waren kein Ausdruck eines »Arabischen Frühlings«. Weder waren sie »arabisch«, noch anderweitig ethnisiert. Auch ereigneten sie sich nicht im Frühling: Tunesiens Revolution begann im Dezember 2010, die Absetzung Ben Alis folgte im Januar 2011. Die Revolution in Ägypten begann im Januar 2011, ihre Höhepunkte liegen im Februar. Warum also Frühling?

Es verbirgt sich eine koloniale Erzählfigur hinter der Rede vom Frühling für »die Araber«, Orientalismus (2) hinter der der »Jasminrevolution«. Wie der peruanische Intelektuelle Aníbal Quijano nachwies, konstruiert die eurozentrische Perspektive eine Vorstellung von Moderne, die die Geschichtsproduktion des Globalen Nordens der Gegenwart, und den rassifizierten Globalen Süden der Vergangenheit zuordnet. Auch in der Metapher eines »Arabischen Frühlings« verbirgt sich die Vorstellung, dass eine Gesellschaft der Vergangenheit nun einen ersten Schritt in den neuen Jahreszyklus mache. Es ist der Zyklus der Moderne, dessen immerwährender Sommer Europa und die USA sind. Eine solche Erzählfigur lässt nicht nur den modernen Kapitalismus als einzig logisch erstrebenswert erscheinen. Sie verschleiert auch den historischen Ursprung der relativen Gleichzeitigkeit der Revolutionen in Nordafrika und dem sogenannten »Nahen Osten«: Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts waren diese Länder europäische Kolonien. Die materiellen Verhältnisse, aus denen die Gesellschaften hervorgehen, sind von der andauernden kolonialen Ausbeutung geprägt. Für Europa und die USA waren und sind diese Diktaturen Stabilitätsanker und ökonomische Ressource.

In der Rede von einer »Jasminrevolution« offenbaren sich wiederum romantisierende und sexualisierende Erzählweisen. Das orientalisierte, »arabische« Subjekt wird der Sphäre des Natürlichen, des Körperlichen zugerechnet. Die Revolution wird auf diese Weise der Sphäre des Erotischen, Körperlichen, Romantischen und Natürlichen zugeordnet. Sie steht im Kontrast zur Vorstellung vom orientalischen Mann, dem potenziell terroristischen Subjekt, und hüllt alles in den Duft der erotischen Sommernachtsphantasien Europas. Es riecht exotisch nach Jasmin, der pflanzlichen Metapher dieses Orientalismus. Weder der scheinbar naturwüchsige Zyklus der eurozentrischen Moderne, noch das kapitalistische Heilsversprechen haben jedoch die ägyptischen und tunesischen Bevölkerungen in die Revolution geführt. Es war das gezielte Organizing etwa von Jugendbewegungen, die gegen die bestehenden Verhältnisse mobilisiert haben. Es war nicht romantisch. Es waren Revolutionen von unten, die hunderte Menschen ihr Leben gekostet haben.

Die Bewegungen waren auch keine »Facebook-Revolutionen«. Sicher, soziale Medien haben als Informationsquelle eine Rolle gespielt. In einem Essay zur Rolle von Massenmedien während der Revolution in Ägypten schreibt der Medienwissenschaftler Kai Hafez: »Auch wenn man die anschiebende Wirkung der sozialen Medien gerade in den ersten Tagen der ägyptischen Aufstände anerkennt, war der Arabische Fruhling weder eine Facebook-Revolution noch eine Medienrevolution. Nicht nur wurde das Internet nach wenigen Tagen in Ägypten abgeschaltet, was die Aufstände dennoch nicht beendete. Klassische Massenmedien wie Al Jazeera, (…) machten die Aufstände in Ägypten zu einem Großereignis und rückten sich selbst einmal mehr ins Zentrum der Weltbeachtung. Ein zweiter Grund ist, dass mündliche soziale Kommunikation sowie traditionelle Formen der politischen Kommunikation wie Flugblätter, Graffitis, also uralte Kulturtechniken, weitaus wirksamer waren als die neuen elektronischen Medien, obwohl sie in der Analyse oft vergessen werden. Die meisten Protestierenden waren nie im Internet oder bei Facebook aktiv geworden und schon gar nicht bei Twitter, das in den Aufständen ohnehin noch keine Rolle spielte.« (3)

Es ist einigermaßen absurd in einem Kontext, in dem nicht einmal ein Zehntel der Bevölkerung überhaupt Zugang zu einem Computer mit Internetanschluss hatte, von einer »Facebook- oder Twitter-Revolution« zu sprechen. Auch in diesen Erzählweisen verbirgt sich schlichte Kolonialität, die kapitalistische Konsumangebote, hier der Kommunikationstechnik, als Grundlage für die Emanzipation eines ansonsten nicht vernunftbegabten Globalen Süden darstellt. In dieser Vorstellung werden nicht die gezielten und langfristigen Mobilisierungsstrategien der lokalen Aktivist*innen, und auch nicht die materiellen Verhältnisse der revolutionären Massen für den Umsturz jahrzehntealter Diktaturen verantwortlich gemacht, sondern Produkte des Kapitalismus. Auf diese Weise werden der Globale Norden, die eurozentrische Moderne und der neoliberale Kapitalismus zum revolutionären Subjekt verklärt. Die Rede von der »Social-Media-Revolution« enttarnt sich als kolonialrassistische Erzählweise.

Exil und Gegenwart

Auch außerhalb Ägyptens formierte sich Protest. Ägypter*innen im Exil organisierten 2011 Demonstrationen und Kundgebungen in Stadtzentren und vor den ägyptischen Botschaften. Für mich war die Kundgebung des »Egyptian-German-Network for Changing Egypt« Anfang Februar 2011 die erste Mobilisierungs- und Organisierungserfahrung dieser Art gewesen, ein Wegmarker meiner politischen Sozialisation. Ich hielt zum ersten Mal eine politische Rede in der Öffentlichkeit und kam mit meiner Stellungnahme in die Tagesschau. Eine zentrale Erfahrung von Menschen mit ägyptischem Migrationserbe im Exil war die Dauerberichterstattung des katarischen Nachrichtensenders Al Jazeera English. Über 18 Tage, rund um die Uhr, war dieser Sender unser Alltag. Die Internetblockaden, Einschränkungen des Telefonnetzes und die permanente Angst vor Überwachung machten direkten Kontakt zu Menschen in Ägypten nicht durchgängig möglich.

Im Programm Al Jazeeras liefen immer wieder Interviews und O-Töne von bis zum heutigen Tage bekannten Figuren der Revolution. Etwa von Mona Seif, Tochter der Menschenrechtsaktivist*innen Leila Soueif und Ahmed Seif. Monas jüngere Schwester, Sanaa Seif, sitzt seit Sommer 2020 zum nunmehr dritten Mal in ihrem jungen Leben im Gefängnis, ohne ein Urteil. Sie wird bestraft, weil sie gemeinsam mit Mutter und Schwester gefordert hatte, mit ihrem ebenfalls politisch gefangenen älteren Bruder Alaa Abd el-Fattah persönliche Briefe austauschen zu dürfen. Am 22. Juni 2020 wurden die drei Frauen vor der Vollzugsanstalt angegriffen und ausgeraubt. Sanaa erlitt eine Kopfverletzung. Als sie am Folgetag den Amtssitz des Oberstaatsanwaltes aufsuchte, um den Vorfall anzuzeigen, wurde sie in einen Minivan gezerrt und entführt. Tags darauf wurde sie dem Oberstaatsanwalt vorgeführt. Ihr wird die »Anstachelung zu terroristischen Akten«, die »Verbreitung von Fake News« und der »Missbrauch Sozialer Medien« vorgeworfen. Alaa Abd el-Fattah war im Januar 2014 für seinen Aktivismus zu 14 Jahren Haft verurteilt worden. Zwischenzeitlich aus der Haft entlassen, sitzt er seit September 2019 wieder hinter Gittern. In einem Appell rufen zahlreiche Organisationen und Prominente – darunter Naomi Klein, Arundhati Roy und Khaled Hosseini – zur Freilassung von Sanaa und Alaa sowie aller politischer Gefangenen auf. (4)

Auf die Revolution von 2011 und eine vom Obersten Rat der Streitkräfte (»SCAF«) autoritär geführte Übergangsphase folgte eine rechtskonservative Regierung der islamistischen Muslimbrüder, welche schließlich im Juli 2013 von Militärs in einem Putsch beendet wurde. Mit großer Mehrheit hatte die »Partei für Freiheit und Recht« der Muslimbrüder 2011 die erste demokratische Wahl der Republik gewonnen, die Bruderschaft konnte mit Mohammed Mursi ab 2012 den Präsidenten stellen. Wenngleich demokratisch gewählt, zeigte auch die Regierung Mursi Elemente, die die Sorge vor einem autoritären Staatsumbau nahelegten. Immer wieder mobilisierte er mit antiliberaler, zuweilen fundamentalistischer Propaganda. Bei einer Syrien-Konferenz rief er gar zum Dschihad auf: Ägypter*innen sollten sich den Kämpfen in Syrien anschließen. Mursi mag demokratisch legitimiert gewesen sein, seine Politik jedoch lies kaum einen Zweifel: Auf lange Sicht war das Ziel die Errichtung einer frommen Diktatur.

Zwischen Skylla und Charybdis

Die Frage drängt sich unweigerlich auf: Wie konnte es soweit kommen? Warum waren es nach der von einer breiten Jugendbewegung getragenen Revolution ausgerechnet rechtskonservativ-autoritäre und religiöse Kräfte, die sich in den Wahlen durchsetzen konnten? Ein Grund dafür ist die strukturelle Schwäche der linken und liberalen Kräfte im Land. Während der Autoritarismus der rechten Kräfte – ob im Militär oder bei den Muslimbrüdern – geeint und organisiert auftreten konnte, scheiterten die parteipolitisch organisierten Teile der linken und liberalen Bewegungen daran, geeinte Ideologieprojekte zu artikulieren, und damit Hegemonien in sich zu binden.

Der wesentliche Grund für den politischen Erfolg der Islamist*innen liegt jedoch bei ihnen selbst. Die 1928 gegründete Muslimbrüderschaft oszillierte stets zwischen behutsamer Einbindung durch die herrschenden Eliten in das politische System der Republik und ihrer Antagonisierung. Immer wieder war die Bruderschaft illegalisiert, konnte sich nur im Untergrund organisieren. Insbesondere in den drei Jahrzehnten der Ära Mubarak entwickelte sich die Muslimbruderschaft im Untergrund zu einer wesentlichen Trägerin sozialer Hilfestrukturen im Land. Ein durch und durch korrupter Staatsapparat und Jahrzehnte neoliberaler Austeritätspolitiken, angefeuert durch die Programme des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, übte sich in Ignoranz gegenüber den dramatischen Lebensverhältnissen einer großen Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung. Demgegenüber stand eine hochgradig organisierte, in den wenigen verfügbaren Spielräumen operierende Muslimbruderschaft, die Wohlfahrt ebenso wie Zugänge zu Gesundheit und Bildung organisierte. Durch gezieltes community organizing schufen die Muslimbrüder kostenlose soziale Infrastrukturen für Menschen, die für die Eliten kaum von Interesse waren. Sie verknüpfen ihre islamistische Haltung und ihre Frömmigkeit auch mit antikolonialen Narrativen. Der Korruption und dem Sozialabbau in Folge des Paktes mit dem westlichen Kapitalismus versuchen sie ein religiöses Ideologieprojekt entgegenzusetzen.

Nach nur 13 Monaten ist die chaotische Regierung Mursi vorbei, sie mündet in einen Militärputsch. Seitdem ist eine Regierung unter dem ehemaligen Militär Abd al-Fattah al-Sisi an der Macht, und die oligarchisch-autokratischen Verhältnisse von vor der Revolution wurden restauriert und ausgebaut. Menschenrechtsorganisationen dokumentierten zahllose politisch motivierte Festnahmen. Seit Beginn dieser Regierung wurden mindestens 19 neue Gefängnisse gebaut. Mubarak indes starb im Februar 2020 im Alter von 91 Jahren in Freiheit.

Vielen Menschenrechtsaktivist*innen wird das Leben seither erheblich erschwert. Aida Seif al-Dawla etwa, Gründerin des El-Nadeem-Zentrums gegen Folter und eine der bekanntesten Feministinnen des Landes, hat nun schon einige Jahre Ausreiseverbot. Sie wurde 2018 mit dem Menschenrechtspreis von Amnesty International ausgezeichnet. Auch durch Gesetzesänderungen wird die Arbeit zivilgesellschaftlicher Akteur*innen de facto verunmöglicht. Dissidente NGOs können sich kaum mehr finanzieren.

In seinem Text »Good Morning Revolution: A To Do List« schrieb Hani Shukrallah am 12. Februar 2011 gleich zu Beginn: »Bekämpft keine Geister: Das Militär beabsichtigt keine Machtübernahme. Ich verstehe die Sorgen gut, aber sympathisiert nicht mit den Phobien. Wir sollten damit aufhören, die Geister unserer Vergangenheit zu beschwören und mit unserer Gegenwart zu verwechseln. Revolutionen, ich habe das in den vergangenen Wochen immer wieder geschrieben, münden nicht in der Militärdiktatur, Putsche tun das, und Konterrevolutionen.« Auch wenn er seinen Fehler später reflektierte: Zumindest dieses eine Mal, in der Annahme, das Militär sei auf der Seite der Bewegung, hat sich Hani geirrt.

Tarek Shukrallah

ist Politikwissenschaftler*in, politische*r Referent*in und Aktivist*in in migrantischen bzw. antirassistischen sowie queeren Bewegungen und betreibt die digitale Skill-sharing-Plattform mit Blog partizipieren.org.

Anmerkungen:
1) Übersetzungen der Zitate: Tarek Shukrallah
2) Orientalismus: u.a. auf Edward Said zurückgehender Begriff zur Beschreibung der kolonialen Ideen, die den sogenannten »Orient« konstruieren und rassifizieren.
3) Kai Hafez in »Macht und Ohnmacht der Medien in Demokratisierungsprozessen. Lehren aus dem Arabischen Fruhling«.
4) www.freedomfor.network/

Thema in ak 667: Zehn Jahre Aufstand

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