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|Thema in ak 663: Krise der Weltwirtschaft

Der ökonomische Fußabdruck des Virus

Der Dienstleistungssektor hielt die Gesellschaft während des Corona-Crashs am Laufen. Doch die deutsche Wirtschaftspolitik setzt eher auf die Industrie

Von Mechthild Schrooten

Abwracken, abwracken und nochmals abwracken, so hätte es die Autoindustrie gern wieder gehabt. Doch diesmal wirft ihr der Staat das Geld auf anderem Wege hinterher.

So viel steht fest: Das Jahr 2020 wird in die Geschichtsbücher eingehen. Ein Virus hat die globalisierte Welt getroffen und den primitiven Zukunfts- und Wachstumsglauben in Frage gestellt. Das Virus hat in alle Alltagsbereiche der Menschheit eingegriffen. In einer solchen Situation gilt es, innezuhalten und bisherige Strategien zu überdenken. Genau das würde sich ohnehin anbieten. Über Jahrzehnte war Umwelt gegen Wohlstand ausgespielt worden – das Klima konnte sich nur zögerlich wehren. Inzwischen ist klar, dass ein konsum- und produktionsorientiertes Weiter-so die realen Lebensbedingungen auf der Erde gefährdet.

In dieser Situation hat Covid-19 zum Stillstand gebracht, was vorher scheinbar nicht durch Menschenhand zum Stillstand zu bringen war. Das Virus hat seinen ökonomischen Fußabdruck bereits in den Zahlen zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hinterlassen. In Deutschland ist das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal 2020 um knapp zehn Prozent gegenüber dem Vorquartal eingebrochen. Der größte gesamtwirtschaftliche Crash seit Bestehen der Bundesrepublik. Eine Wirtschaftskrise historischen Ausmaßes. Eine Krise, die nicht an Staatengrenzen Halt macht. Die ganze Welt ist betroffen. Die nationalen Krisenstrategien unterscheiden sich jedoch gewaltig.

In Deutschland wurden die Menschen und die einzelnen Wirtschaftsbereiche hart getroffen. In der Krise wurde klar, dass in solchen Notzeiten gerade der Dienstleistungssektor den Motor der Gesellschaft am Laufen hält. Deutschland unterscheidet sich im Hinblick auf die Wirtschaftsstruktur deutlich von vielen anderen EU-Volkswirtschaften. Der Anteil der Industrieproduktion ist mit 24 Prozent am Bruttoinlandsprodukt (2019) im EU-Vergleich hoch. Der Anteil der Industrieproduktion liegt in Frankreich und im Vereinigten Königreich bei 13 Prozent. Also etwa bei der Hälfte des Wertes für Deutschland. Längst hat in vielen ehemaligen Industrieländern ein Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft stattgefunden. Deutschland gilt dagegen immer noch als Industrienation und will es bleiben. In Deutschland sichert die Industrieproduktion schließlich nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch den hohen Exportanteil und Renditen.

Der Abschwung war schon vor dem Virus da

In der Corona-Zeit wird oft vergessen, dass Deutschland schon 2019 mit einem deutlichen wirtschaftlichen Abschwung konfrontiert war. Nach der internationalen Finanzkrise 2008 hatte hier im Unterschied zu anderen EU-Ländern eine unerwartet lange Erholung eingesetzt. Die Krise 2008 war anders als die heutige. 2008 brach der Glaube an ein finanzmarktgetriebenes Wirtschaftswachstum zusammen. Banken hatten auf Renditen gesetzt, wo keine zu erwarten waren. Bis heute haben sich die damaligen Akteure kaum erholt. Der Aufschwung kam trotzdem – getragen von einem Konjunkturpaket, das im Kern auf die Automobilindustrie und das Wundermittel »Kurzarbeit« setzte. Mit Abwracken und Kurzarbeit glitt Deutschland in den Folgejahren in einen langen Aufschwung, der erst 2019 zu lahmen begann. Die gesamtwirtschaftliche Zuwachsrate lag nur noch bei 0,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Die Bundesregierung hatte nicht zuletzt vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Abschwungs bereits 2019 ihre nationale Industriestrategie 2030 vorgestellt. Im Untertitel des Papiers heißt es: »Strategische Leitlinien für eine deutsche und europäische Industriepolitik«. Das Schriftstück lässt erkennen, dass die Sicherung der Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie auch und vor allem von Investitionen in die Infrastruktur und in den Dienstleistungsbereich – darunter auch in den Bildungssektor – abhängen wird. Infrastruktur, nicht nur digitale Infrastruktur, aber auch der Bildungssektor sind seit mindestens zehn Jahren krasse Schwachpunkte Deutschlands im internationalen Vergleich. Jeder Euro, der in diesen Bereichen nicht zuletzt bedingt durch die sogenannte Schwarze Null scheinbar gespart wurde, kommt der Gesellschaft als gesamtes teuer zu stehen.

Covid-19 hat zum Innehalten angehalten. Inzwischen ist von Innehalten keine Rede mehr.

Im ersten Quartal 2020 verschärfte sich der Abschwung – von Januar bis März sank die Wirtschaftsleistung um zwei Prozent gegenüber dem Vorquartal. Tatsächlich gilt in der Corona-Krise: Krankheit trifft auf eine kriselnde Wirtschaft. Beides zusammen kann rasch in einer dauerhaften Abwärtsspirale münden. Beides zusammen könnte aber auch dazu dienen, die Zukunftsgestaltung konstruktiv in Angriff zu nehmen. Dazu aber bedarf es intelligenter Lösungen.

Auch deshalb erlaubt das Grundgesetz, dass in krassen Situationen von den relativ starren Defizitkriterien abgerückt werden kann. Inzwischen hat die Bundesregierung ein massives Konjunkturprogramm aufgelegt. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) erklärt: »Deutschland muss möglichst schnell und gestärkt aus der Krise hervorgehen. Dafür sorgen wir mit dem umfassendsten Konjunkturprogramm für Bürger und Wirtschaft in der Geschichte Deutschlands. Wir helfen dem Mittelstand mit Überbrückungshilfen, sorgen für Entlastungen für Bürgerinnen und Bürger und setzen den Fokus auf Zukunftsfelder. Digitalisierung und Mobilität sind die Schlüssel für ein modernes und starkes Deutschland. Hier müssen wir aufholen und investieren.«

Mit Abwrackprämien die Finanzkrise meistern

Und Deutschland hat ja schließlich auch Krisenerfahrung. Angenommen, Sie müssten die Politik in Krisensituationen beraten. Logisch, in der internationalen Finanzkrise kommen Sie mit Leichtigkeit darauf, dass diese und die Bankenkrise am besten durch eine großzügige Abwrackprämie für Autos gemeistert werden. Sie sagen, Moment, das ist ja gar nicht logisch, aber die Erfahrung gibt Ihrer Logik Unrecht.

Und die Folgen der internationalen Finanzkrise 2008 waren längst nicht so dramatisch, wie die Covid-19-Rückschläge 2020. Was fällt Ihnen bei der Politikberatung jetzt ein? Natürlich! Eine Autoprämie – schließlich sind die Kisten von 2008 inzwischen in die Jahre gekommen. Und außerdem gibt es neue Antriebstechnologien, die offenbar ökologischer sind und das Klima schonen sollen. Diese Antriebsinnovationen entwerten ohnehin den vorhandenen Fuhrpark, der auf Verbrennungsmotoren setzt. Schon allein das könnte die Nachfrage nach Autos retten.

Noch besser allerdings sind Kaufprämien. Das zieht immer. Aber die Krise ist größer als damals. Also größer denken. Warum beim Auto aufhören: Flugzeuge können doch auch abgewrackt werden. Ein neues Mobilitätskonzept muss her, heißt aber eben nicht Fahrrad fahren. Auch nicht öffentlicher Nahverkehr für alle. Nein, irgendwie muss das Mobilitätskonzept mit dem Industriestandort Deutschland verbunden werden. Und so kommt eins zum anderen. Kurzarbeit gehört natürlich auch in das Paket zur Konjunkturankurbelung, und dann kommen noch ganz viele andere Punkte dazu. Die Themen Bildung und digitale Infrastruktur sind natürlich auch enthalten. Viel Geld. So soll das Land zukunftsfähig gemacht werden.

Die Lobbyist*innen dürften frohlockt haben, als sie von dem Konjunkturpaket gehört haben. Denn jetzt können sich ganze Wirtschaftsbereiche gezielt sanieren und neue Wege ausprobieren. Kapitalismus heißt schließlich ständige Veränderung. Dort, wo ohnehin Strukturwandel angesagt war, wird dieser jetzt durch öffentliche Mittel finanziell abgefedert. Die notwendigen Innovationen der Industrie werden nun durch Staatsgeld unterstützt.

Der Dienstleistungssektor auf der Verliererstraße

Die Wettbewerbsfähigkeit der teilweise veralteten Produktionsprozesse wird durch eine gesamtgesellschaftliche Transformation perspektivisch gesteigert. Genial! Kaum noch werden diejenigen gehört, die im letzten Jahr wegen der Klimaziele Verzicht gepredigt haben. Inzwischen scheint es Konsens zu sein: Wir erreichen unsere Ziele durch technologische Lösungen. Ganz nebenbei organisieren wir auch das Arbeitsleben ein bisschen um. Homeoffice-Erfahrung kann die Produktivität steigern, lässt sich inzwischen in den Gazetten lesen. Produktionsprozesse werden weiter automatisiert. Das Phänomen »künstliche Intelligenz« heißt in Deutschland im Kern Industrie 4.0. Es zeichnet sich ab, dass auch diese Krise kaum etwas an der grundlegenden Industrieorientierung der deutschen Wirtschaft ändert. Und vereinfachend sei darauf hingewiesen, dass die vielfach gegeneinander ausgespielten Bereiche »Industrie« und »Dienstleistungen« natürlich auch in Zusammenhang mit verschiedenen Pay-Gaps diskutiert werden könnten.

»Wer hat, der gibt« – Aktionstag am 19. September

»Wir zahlen nicht für Eure Krise«, hieß es vor zehn Jahren, als Zehntausende in deutschen Großstädten auf die Straße gingen, um dagegen zu protestieren, dass die Folgen der Finanzkrise auf den Rücken der Armen, prekär Beschäftigten und Lohnabhängigen abgewälzt werden. Unter dem Slogan »Wer hat, der gibt« hat sich infolge der Corona-Krise ein neues Krisenbündnis gebildet, das dasselbe Ziel verfolgt: Die Reichen müssen für die Krise bezahlen. Die Aktiven gehen davon aus, dass der soziale und finanzielle Notstand infolge von Corona erst noch bevorsteht. Rettungsmaßnahmen, Soforthilfen und Konjunkturprogramme – all das kostet Geld. Der Staat verschuldet sich, während ihm gleichzeitig die Steuern wegbrechen. Bald schon, so die Befürchtung, werde die Frage des ausgeglichenen Staatshaushalts die politische Agenda dominieren. Und damit die Frage: Wo kann gespart werden? In die Auseinandersetzung um die Verteilung der Krisenlast möchte das Bündnis mit einem ersten Aktionstag am 19. September frühzeitig intervenieren. In Berlin, Hamburg, Hannover, Kaiserslautern, Leipzig und Stuttgart wird es Demonstrationen und Aktionen geben. Das Besondere dabei: Die Aktionen sollen überwiegend in den Reichenvierteln der jeweiligen Städte stattfinden. An diesen Orten des offensichtlichen Überflusses, so die Annahme, werde umso mehr deutlich, wie tief die Gesellschaft gespalten ist, und klar werden, dass keineswegs jede*r den Gürtel enger schnallen müsse.
Mehr unter: werhatdergibt.org/

Inzwischen ist schon wieder klar, dass der vor kurzem noch gefeierte Dienstleistungsbereich wieder auf der Verliererstrecke ist. Wurden in der akuten Covid-19-Krise gerade die Dienstleistungen als systemisch relevant beklatscht, so werden sie beim Konjunkturpaket tendenziell vernachlässigt. Bereits eine bessere Bezahlung würde vielfach helfen. Denn es ist gerade dieser Bereich, von dem die viel beschworene Zukunftsfähigkeit der Gesamtwirtschaft abhängt. Der Dienstleistungssektor, zu dem auch der Bildungsbereich und der öffentliche Dienst zählen, hätte eine deutliche gesamtgesellschaftliche Aufwertung verdient. In der Covid-Zeit ist mit besonderer Schärfe klar geworden, dass ein funktionsfähiger Sozialstaat mit ausreichend Personal ein Unterpfand für gesellschaftliche Stabilität ist. Staatliche Infrastruktur muss gesichert sein.

Covid-19 hat zum Innehalten angehalten. Inzwischen ist von Innehalten keine Rede mehr. Produktion und Konsum sollen auch weiterhin durch die Zukunft tragen. Die alte Industriestrategie der Bundesregierung ist auch die neue. Ökonomische Krisen sind auch immer Verteilungskrisen. Diese Krise hinterlässt bereits jetzt Verlierer*innen – eben im klassischen Dienstleistungssektor. Die Börsenkurse indes haben sich inzwischen deutlich erholt. Für Vermögende sieht die Zukunft blendend aus.

Mechthild Schrooten

Mechthild Schrooten ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Uni Bremen.

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