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|Thema in ak 657: Feminismus 2020

Da geht noch was

#metoo steht auch für bildungsbürgerliche Larmoyanz. Kein Grund, Erfolge und Potenziale des Massenfeminismus kleinzureden

Von Eva Berendsen

Anfang Januar dieses Jahres begann in New York der Prozess gegen Harvey Weinstein. Über mehrere Wochen verging kaum ein Tag, an dem die brutalen Geschichten mehrerer Vergewaltigungen durch den ehemaligen Hollywood-Produzenten nicht unter den »Topnews« auftauchten. Sexualisierte Gewalt und der Zusammenhang von Macht(missbrauch) und Cis-Männlichkeit bleiben damit, mehr als zwei Jahre nach Beginn der #metoo-Debatte, ein populäres Thema. Wow, welch ein Erfolg, könnten Feministinnen jauchzen und die Konfettikanone zünden. Aber so eindeutig ist die Sache selbstredend nicht. An #metoo gibt es eine Menge zu kritisieren. Die interessanteste Kritik kommt dabei aus der Debatte selbst und sicher nicht von jenen, die Feminismus wahlweise als »Krebsgeschwür« (Milo Yiannopoulos) oder »neuen Totalitarismus« (Thea Dorn) geißelten.

Fest steht, dass die von manchen als »Hashtag-Aktivismus« belächelte #metoo-Debatte die Gesellschaften des Spätpatriarchats ordentlich durchgeschüttelt hat, allen voran die USA, wo sich #metoo bereits deutlich sichtbar in der Mainstreamkultur niederschlägt. Hat #metoo feministische Kämpfe also grundlegend vorangebracht? Und von welchem Phänomen sprechen wir überhaupt, wenn wir über #metoo reden?

(Fast) alle können mitreden

#metoo ist vieles, zunächst einmal Feminismus für die Massen. Hier können wirklich alle mitreden. Alle jedenfalls, die als Frauen gelesen werden und mit Social-Media-Accounts ausgestattet sind. Fast jede Frau hat eine Geschichte darüber zu erzählen, wie die männliche Dominanzkultur ihr im Alltag zusetzt. Es ist die Stärke von #metoo, dass so ziemlich alles auf den Tisch kam, was mit Sexismus, sexualisierter Gewalt und sexueller Belästigung zu tun hat. Die Millionen Geschichten über Vergewaltigung, Nötigung und Übergriffe, des Belästigens, Begrapschens, Begaffens, die für Mädchen und Frauen unterschiedlich intensiv, aber doch zum Alltag gehören, künden davon, wie ihre Integrität, das Sicherheitsgefühl und das Selbstverständnis in dieser von Männern dominierten Welt teils massiv beschädigt werden.

Dass alles auf den Tisch kam, wurde #metoo aber auch zur Schwäche. Ein gewichtiger Vorwurf aus dem feministischen Lager selbst lautete etwa, dass in der Debatte die Grenzen verwischt wurden und bei all dem Gerede über sexistische Mikroaggressionen brutale Gewalt verharmlost wurde. Nein, ein plumpes Kompliment und schlechter Sex sind nicht dasselbe wie Vergewaltigung. Aber auch plumpe Komplimente und schlechter Sex kamen auf den Tisch – und warfen die sehr wohl politische Frage auf, warum Frauen plumpe Komplimente auch in der heutigen Zeit notorisch weglächeln, warum sie nicht einfach zusammenpacken, wenn’s keinen Spaß macht, warum sie schlechten Sex über sich ergehen lassen oder sich sexueller Grenzüberschreitungen gar erst Jahre später bewusst werden.

Heteronormatives Ancien Régime

So wurde #metoo vor allem zum Lehrstück, zur Bestandsaufnahme, vielleicht sogar zur Bankrotterklärung der feministischen Bewegung der letzten fünf Jahrzehnte: Denn die unter dem Hashtag versammelten Beispiele illustrierten auch, dass viele Frauen heute trotz Frauenbewegung, Pippi-Langstrumpf-Lektüre und Wendo-Kursen nicht in der Lage zu sein scheinen, für die eigene Lust und vor allem gegen Unlust einzutreten. Das irritierte nicht nur manche Feministin, sondern wurde von Männern für ihre Verächtlichmachung genutzt: »Natürlich ist sexuelle Nötigung böse«, meinte zum Beispiel der Autor Andrew Sullivan im New York Magazine, »aber wenn du jemanden am Telefon hast, der zu masturbieren scheint, dann kannst du natürlich immer, du weißt schon, auflegen«.

Hat #metoo Frauen also nur tiefer in die Opferrolle hineingeführt? Fragen wir uns ruhig selbst, ob in einer Zeit, in der die Aufmerksamkeitsökonomie von Social-Media-Befindlichkeiten und -Betroffenheiten zu harter Währung konvertiert, wirklich jeder Tweet über eine mikroaggressive Alltagspraxis noch als Beitrag zum Verständnis der Bandbreite sexualisierter Gewalt gelesen werden kann. Oder geht es nicht eher um ein Dazugehören zu einer Opfergemeinschaft, in der die Guten fein säuberlich von den Bösen unterschieden werden? Um es einmal polemisch zu formulieren: Wer selbst keine sexuelle Gewalt erlebt hat, mag sich auf Twitter doch über die 99,9 Prozent Zeitungen und Magazine empören, die nicht in geschlechtersensibler Schreibweise verfasst sind: #metoo.

Frauen, so ein Vorwurf, legen sich so gewissermaßen selbst auf ihre Rolle als Opfer fest und schreiben die vornehmlich weiblich apostrophierte Passivität fort, während Männer uns ausschließlich als Aggressoren, Täter, Monster, kurz: als Weinsteins präsentiert werden. Der Queertheoretiker Paul B. Preciado interpretierte #metoo in diesem Sinne als Inszenierung eines heteronormativen Ancien Régimes, in dem RoboCops (Männer) und Außerirdische (Frauen) ihr olles Theater aus Beherrschen und Beherrscht werden zum Verdruss nicht nur der queeren Community aufführten.

Auch zahlreiche Frauen sahen sich bei diesem als neue weibliche Weinerlichkeit interpretierten Drive der Debatte nicht abgeholt und wendeten sich genervt ab nach dem Motto: Warum so viel Gewese um einen Blick ins Dekolleté, während die krassen Probleme, welche die »Krise der sozialen Reproduktion« (Gabriele Winker) vor allem Frauen beschert, weiterhin unbearbeitet bleiben! Die linke US-Feministin Susan Faludi etwa beklagte eine Vernachlässigung der ökonomisch-strukturellen Grundlagen von patriarchaler Macht und Gewalt. Sie diagnostizierte #metoo eine paradoxe Bilanz: Während Patriarchen wie Weinstein oder Bill Cosby zu Fall gebracht worden seien, stünde das Patriarchat stärker da als je zuvor, so Faludi mit Blick etwa auf die umfassenden Budgetkürzungen unter Trump, welche am heftigsten nicht-weiße Frauen trafen. Grund sei der starke Fokus der Debatte auf einzelne, prominente Täter. Metzelt der Massenfeminismus also an der falschen Front?

Man ist schnell geneigt, #metoo bildungsbürgerliche Larmoyanz, mangelnde Kapitalismuskritik, eine fehlende intersektionale und eine überkommene differenzfeministische Perspektive vorzuwerfen. Etwa, wenn das Statement-Shirt mit der Aufschrift »Feminist«, das Discounter wie H&M unter menschenunwürdigen Bedingungen von Frauen in den Ländern des globalen Südens produzieren lassen, in kämpferischer Pose zur Schau getragen wird. Feminismus im Sinne einer umfassenden Herrschaftskritik sieht natürlich anders aus.

Vieles läuft jedoch auch richtig, sogar in Hollywood. Da forderte die Schauspielerin Natalie Portman in einer flammenden Rede, dass auch LGBTIQ-Personen und Menschen mit Beeinträchtigungen mehr Sichtbarkeit in Filmen bekommen müssten. Da checkten prominente Schauspielerinnen ihre Privilegien und schmiedeten solidarische Allianzen mit Landarbeiterinnen in Kalifornien, um gemeinsam sexualisierte Gewalt gegen Angestellte, Kellnerinnen, Lohnarbeiterinnen und Hausmädchen zu bekämpfen. Das ist vor allem Symbolpolitik, zeigt aber trotzdem Wirkung. Hierzulande verkündeten plötzlich auch Lokalzeitungen, dass sexualisierte Gewalt nicht mit Sex, sondern mit Macht zu tun habe. Und dass unsere Gesellschaft jene mit Macht, höheren Gehältern und besseren Karrierechancen ausstatte, die nicht die hauptsächliche Verantwortung für Kinder, Küche, Alte und Kranke trügen.

Was wurde gewonnen?

So ist auch der Begriff der Care-Arbeit, ein Kernkonzept feministischer Kapitalismuskritik, inzwischen im bildungsbürgerlichen Mainstream angekommen. Autorinnen wie Margarete Stokowski auf Spiegel-Online oder Teresa Bücker in der Onlinefassung des SZ-Magazins wagen es mittlerweile, ihren Leser*innen sogar marxistisch-feministische Theoretikerinnen wie Silvia Federici zuzumuten. Online-Jugendportale wie bento oder jetzt scheinen sich den Themen von marginalisierten Gruppen mitunter stabiler zu widmen als so manches Szeneblatt. Und neuerdings soll auch für Spiegel-Redakteur*innen das generische Maskulinum nicht mehr Standard sein.

Es wäre sicherlich naiv zu behaupten, dass sich im Fahrwasser von #metoo so etwas wie eine feministische Massenpädagogik entfaltete. Immer noch bewegt sich die medial geführte Debatte vor allem auf der gut sichtbaren Oberfläche dessen, was die patriarchal strukturierte Gesellschaft in Hunderten von Jahren an Machtungleichgewichten hervorgebracht hat: zwischen Cis-Männern einerseits und Frauen anderseits. Die Repräsentanz von LGBTIQ-Personen und Menschen mit Beeinträchtigungen in der Debatte bleibt gering. #metoo, so ließe sich zuspitzen, ist immer noch zuvörderst feministisches Infotainment für die gebildeten Schichten. Was ist damit gewonnen?

Nein, die Care-Revolution steht noch nicht vor der Haustür. Und ja, Männer verdienen in Deutschland im Schnitt immer noch 21 Prozent mehr als Frauen. Jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau durch Partnerschaftsgewalt getötet. Und ja, immer noch hören Millionen den vor diversen Ismen nur so strotzenen Alpha-Männlichkeits-Mist von Kollegah. The more things change the more they stay the same also? Darauf deutet nicht zuletzt eine lange Geschichte der neoliberalen Vereinnahmung feministischer Anliegen hin. Auch #metoo könnte letztlich auf eine weitere Modernisierung der bestehenden patriarchalen Gesellschaftsordnung hinauslaufen, anstatt diese grundlegend zu verändern.

Aber sollen wir uns jetzt alle in unsere angeblich so sicheren Safe Spaces zurückziehen und einander die Tränen trocknen? Wenn die (queer-)feministische Bewegung nicht weiter für ihre Visionen auch im Mainstream wirbt, dann übernehmen das Feld jedenfalls anti-emanzipatorische Kräfte. Für die Lösung der Krise der sozialen Reproduktion haben Liberale und die Rechte ihre Antworten ja längst gefunden: Die einen – überwiegend weiße und gebildete Frauen – werben auch nach #metoo noch in erster Linie für größere Karrierechancen für das weibliche Geschlecht. Die Kommodifizierung und Delegation der Care-Arbeit an andere (nicht-weiße, migrantisierte) Menschen erlaubt es ihnen, diesen Weg zu beschreiten und auch queeren Personen und anderen »Minderheiten« einen Teil vom Kuchen anzubieten. Denn radikaler Individualismus lässt sich in die neoliberale Marktlogik durchaus einpassen. Die anderen operieren mit traditionellen Mutter- und Familienbildern und menschenfeindlichen Ausschlussphantasien, in denen die Feinde der erodierenden Geschlechterordnung außerhalb des völkischen Kollektivs verortet werden.

Vor diesem Hintergrund kann und sollte man es auch so sehen: Der – nicht zuletzt durch #metoo – entstandene Massenfeminismus eröffnet Räume für Perspektiven, Haltungen und Themen, die vor gar nicht so langer Zeit noch als »Gedöns« (Gerhard Schröder) und als Nebenschauplätze gesellschaftlicher Auseinandersetzungen abgekanzelt wurden. Diese Räume sollten linke Feminist*innen weder den Rechten noch den Liberalen überlassen. Deshalb: emanzipatorische Visionen, die sich nicht auf die Forderung nach Frauenquoten und das Zählen von Gendersternchen beschränken, ausbauen und breit streuen. Es spricht wirklich nichts dagegen, warum es Entwürfe einer queerfeministischen Utopie für das 21. Jahrhundert nicht in die Primetime schaffen sollten.

Eva Berendsen

Eva Berendsen leitet die Kommunikation der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt/Main, wenn sie nicht in Elternzeit ist, und hat die Sammelbände »Trigger Warnung« sowie »Extrem Unbrauchbar« (beide: Verbrecher-Verlag 2019) mit herausgegeben.