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|Thema in ak 656: United Kingdom

Alles unter Kontrolle?

Boris Johnson will »durchregieren«. Ein Mandat hat er dafür nicht

Von Irene Schrieder

Mit Boris Johnsons Wahlsieg am 12. Dezember 2019 wurde die Pattsituation im britischen Unterhaus beendet: Die Tories haben mit 365 Abgeordneten von 650 eine absolute Mehrheit von 80 Stimmen, während die Labour Party mit lediglich 202 Parlamentarier*innen das schlechteste Ergebnis seit 1935 einfuhr und in absehbarer Zukunft Jeremy Corbyn durch einen neuen Vorsitzenden bzw. eine neue Vorsitzende ersetzen wird. Ein zweites Referendum wird es nicht geben.

Am 31. Januar 2020 verlässt das United Kingdom die Europäische Union. Bis Ende des Jahres muss das UK alle EU-Regeln befolgen, ohne in der EU vertreten zu sein; so lange bleibt für den Handel alles beim Alten. Johnson will diesen »Vasallenstatus« möglichst kurz halten und schließt deshalb eine Verlängerung der Übergangszeit aus; bis Ende Dezember 2020 soll deshalb ein Abkommen mit der EU über die zukünftige Beziehung unter Dach und Fach sein.

War das Wahlergebnis also »a powerful new mandate to get Brexit done«, wie Johnson jubelte? Die Zusammensetzung des Parlaments spiegelt weniger den Willen der Wähler*innen, sondern eher die Verzerrungen des britischen First-past-the-post-Systems wider, bei dem ein beträchtlicher Anteil der Stimmen keine Repräsentation im Unterhaus findet. (Siehe Kasten) Zwar sind die Tories mit 43,6 Prozent die meistgewählte Partei. Jedoch stimmten UK-weit 52,3 Prozent der Wähler*innen für Kandidat*innen von Parteien, die ein neues Referendum in Aussicht stellten oder den Brexit zurückziehen wollen; in Schottland waren es gar 74,1 Prozent, in Wales 57,8 Prozent. In Nordirland sind 54,4 Prozent gegen den Brexit und weitere 42,3 Prozent gegen Johnsons Austrittsvertrag, der Kontrollen und Zolldeklarationen zwischen Nordirland und Großbritannien vorsieht; damit sprachen sich 96,7 Prozent der Nordir*innen gegen seinen Kurs aus.

Mehrheitswahlrecht: nur eine*r kommt durch

Beim First-past-the-post-System (FPTP) wählt jeder Wahlbezirk genau eine*n Vertreter*in. Es gewinnt, wer die meisten Stimmen hat; die anderen Stimmen fallen unter den Tisch. Bei diesem System hängt der Wahlausgang wesentlich davon ab, wie die Grenzen der Wahlbezirke gezogen werden. Ein Zahlenbeispiel verdeutlicht das: Von 100 Personen stimmen 60 für Partei A, 40 für Partei B. Die Stimmen verteilen sich auf 5 Wahlbezirke à 20 Personen. Die Zusammensetzung des Parlaments der 5 gewählten Vetreter*innen hängt dann davon ab, wie sich die Stimmen auf die Wahlbezirke verteilen, wie folgende Beispiele illustrieren:
1. In drei Bezirken wählen alle A, in zwei alle B: Im Parlament sind 3 A, 2 B.
2. Die Wähler*innen verteilen sich gleichmäßig mit je 12 Stimmen für A und 8 für B in jedem Bezirk: Im Parlament sind 5 A und null B.
3. Zwei Bezirke sind rein A, die restlichen 20 A verteilen sich gleichmäßig auf die 3 anderen Bezirke mit jeweils 7 bzw. 6 Stimmen: Im Parlament sind 2 A und 3 B.
Im Allgemeinen begünstigt FPTP große Parteien und verschärft Differenzen, wie in Beispiel 2 – insbesondere wenn es mehr als zwei Wahlmöglichkeiten gibt. Aber auch Umkehrungen wie im 3. Beispiel, bei dem die Partei mit weniger Stimmen mehr Abgeordnete stellt, hat es bei UK-Parlamentswahlen im letzten Jahrhundert zweimal gegeben.
Das bewusste Ziehen der Bezirksgrenzen, sodass eine Partei begünstigt wird, wird als »Gerrymandering« bezeichnet. Die Beispiele zeigen aber, dass es eine objektive, von politischen Erwägungen und Erwartungshaltungen unabhängige Methode der Grenzziehung unter dem FPTP-System nicht gibt.

Für Labour stimmten UK-weit 32,2 Prozent; das entspricht, langfristig gesehen, etwa dem Durchschnitt und ist mehr, als die beiden vorigen Vorsitzenden Gordon Brown und Ed Milliband 2010 und 2015 erzielten – und nur 4,6 Prozent weniger als die 36, 8 Prozent, die David Cameron 2015 eine absolute Mehrheit im Unterhaus bescherten.

Souveränität gleich Deregulierung?

Mit der Wahl entschied sich die Frage, ob das UK wirtschaftlich, regulatorisch und langfristig damit auch politisch nah an Europa bleibt oder andere Wege gehen will. Immanent bedeutet der Brexit für das UK höhere Hürden zum und weniger Einfluss im Binnenmarkt. Ein »Sweetheart Deal«, wie ihn die Brexiteers öffentlich befürworten, schließt sich für die EU aus, weil er ihr Beziehungsgefüge zerstören würde. Nicht nur Mitglieder schauen, ob es vielleicht Rechte ohne die entsprechenden Verpflichtungen geben könnte, sondern auch die EFTA-Staaten Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz. Und die meisten der EU-Freihandelsverträge mit Drittstaaten wie z.B. Kanada, Südkorea oder Japan enthalten Most-favoured-nation-Klauseln. Diese besagen, dass, wenn ein anderes Land bessere Konditionen bekommt, der eigene Vertrag automatisch angepasst wird. Damit wird die Frage nach der zukünftigen Beziehung zwischen UK und EU wesentlich davon bestimmt, wo sich das UK im bestehenden Beziehungsgefüge verorten möchte.

Corbyn wäre mit einer Zollunion mit der EU und weitgehender dynamischer Übernahme eines Großteils des Regelwerks des Binnenmarktes hinsichtlich Normen, Arbeitsrecht etc. sehr dicht an der EU geblieben. Für die Tories dagegen ist die Freiheit vom EU-Regelwerk der Sinn und Zweck des Brexit. Dies war schon in David Camerons Bloomberg-Rede von Januar 2013 angelegt, in der er die Neuverhandlung der EU-Verträge mit anschließendem Referendum über den Verbleib in der EU in Aussicht stellte: Die EU sei zu wenig wettbewerbsfähig, habe zu viele unnötige und wirtschaftsschädigende Regeln, und nivellierte Wettbewerbsbedingungen seien für einen funktionsfähigen gemeinsamen Markt nicht erstrebenswert und würden die Souveränität der Mitgliedstaaten beeinträchtigen. Deshalb sollte die Zuständigkeit der EU in Sachen Umwelt, Soziales und anderem hinterfragt werden, befand er.

So stand die Forderung nach weniger Kompetenzen für die EU und mehr Autonomie der Mitgliedstaaten bei Cameron ganz im Dienst seiner nationalen Deregulierungsagenda. In seiner Autobiografie (»For the Record«, London 2019) zitiert er zustimmend Maggie Thatcher: »Wir haben nicht erfolgreich den Staat in Britannien zurückgedrängt, nur damit wir ihn auf europäischer Ebene wieder eingesetzt sehen.«

Mit der Bloomberg-Rede schürte Cameron Erwartungen für eine Wandlung der EU, die in hohem Grade unrealistisch waren. Indem er sie mit dem Referendum verknüpfte, zeichnete er dabei gleichzeitig den Kurs im Falle eines Votums für den Austritt vor: ein UK, das die EU verließ, weil diese es angeblich in seiner globalen Wettbewerbsfähigkeit behinderte, würde immanent zu einem Konkurrenten der EU. Dies ist ein Kurs, der das UK weiter von Europa entfernt als die Türkei oder die Ukraine, weiter gegebenenfalls als Kanada.

Seit Juni 2016 sehen wir, wie das Land im Großen und Ganzen diesem Kurs folgt. Die Brexiteers stellen verpflichtende Bindungen an EU-Regeln als Ausverkauf des Brexit dar. Theresa May war gezwungen, ihre roten Linien rosa zu färben, weil sie auf die nordirische Democratic Unionist Party (DUP) Rücksicht nehmen musste, auf deren Stimmen sie im Parlament angewiesen war. Für Boris Johnson stellen sich jetzt solche Probleme nicht mehr; er kann ungehemmt das Ziel »Singapur an der Themse« verfolgen.

Hemmungsloser Freihandel als Ziel

Dem entspricht, dass der Vertrag mit der EU bis zum Jahresende fertig sein soll: In so kurzer Zeit ist ein umfassender Freihandelsvertrag nicht möglich. Ins Bild passt auch, dass Johnson die zukünftige Ausrichtung von UK-Regulation entlang europäischer Richtlinien kategorisch ausschließt und den Entwurf des Gesetzes zur Implementierung des Austrittsvertrags im UK entsprechend abgeändert hat.

Dass dieser Weg für viele Unternehmen und ganze Wirtschaftszweige zerstörerisch ist, scheint die Brexiteers nur insofern zu interessieren, als dass sie alles daransetzen, in der Öffentlichkeit die EU für die negativen Folgen verantwortlich zu machen. Die britische Medienlandschaft und viele Äußerungen von Politiker*innen sind voller Scheinlösungen, bei denen für ein nunmehr autonomes UK beim Handel mit der EU und in der Irlandfrage alles beim Alten bleibt. Wenn die EU das nicht mitmachen wolle, liege das daran, dass sie das UK bestrafen und ein Exempel zur Abschreckung statuieren wolle oder einen Horror vor Wettbewerb habe.

Demgegenüber erinnert Sir Ivan Rogers, ehemaliger Ständiger Vertreter des UK in der EU, an die Einsicht des türkischen Ökonomen Dani Rodrik, dass globalisierter Handel, Demokratie und nationale Selbstbestimmung grundsätzlich unvereinbar sind; es lassen sich jeweils zwei kombinieren, aber bei dreien muss eine Kompromisslösung gefunden werden. Rodrik nennt das »The Globalization Paradox«, so der Titel seines erstmals 2010 erschienenen Buches. Die EU ist ein Experiment, grenzüberschreitende Handelsfreiheit mit zunehmender Demokratisierung auf supranationaler Ebene auf Kosten der nationalen Autonomie der Mitgliedsländer zu kombinieren. Ein Labour-Brexit wäre protektionistisch ausgerichtet gewesen: mehr Schutz vor den Interessen multinationaler Unternehmen, Renationalisierung von öffentlichen Einrichtungen wie Bahn und Trinkwasserversorgung.

Die Brexiteers dagegen planen, ihre Freiheit für hemmungslosen Freihandel zu nutzen. Die im Falle einer deutlichen Mehrheit große Macht der britischen Exekutive – 1970 von Lord Hailsham als »elective dictatorship« bezeichnet – gibt Johnson weitgehende Freiheit, das Land in den nächsten Jahren im Zuge von Handelsverträgen mit aller Welt umzukrempeln. Nicht von ungefähr hat er im neuen Gesetzesvorschlag zur Implementierung des Austrittsvertrags die bislang vorgesehene Rolle des Parlaments in Bezug auf die zukünftige Beziehung mit der EU eingeschränkt. Demnach wären Minister*innen nicht mehr gesetzlich verpflichtet, regelmäßig über den Stand der Verhandlungen Bericht zu erstatten. Es muss auch nicht mehr sichergestellt werden, dass das Parlament den Verhandlungszielen der Regierung zustimmt. Stellt sich die Frage, wer wohl in dem Wahlslogan der Brexiteers »Take Back Control« als Kontrollinstanz gemeint war.

Irene Schrieder

Irene Schrieder schreibt in ak über britische Politik und Gesellschaft und über den Brexit.