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|ak 719 | Kultur

Jenseits des deutschen Begehrens

Über den figurativen Juden und die bundesrepublikanische Öffentlichkeit nach dem 7. Oktober 

Von Yaelissima

Grafik: Fleur Nehls

Ich werde öfter für Veranstaltungen zu Israel/Palästina, zu Antisemitismus oder anti-muslimischen Rassismus angefragt mit der Bitte um Ausgewogenheit und Differenzierung. Nur was bedeutet das in Zeiten des tausendfachen Tötens, der Zerstörung, des Leids? In Zeiten der genozidalen Gewalt und Angst? Was heißt es, nuanciert und objektiv Dinge zu betrachten, wenn polizeiliche Repressalien in Deutschland Ländern ähneln, die längst ihr freiheitlich-demokratisches Selbstverständnis zurückgerollt haben? Welche Meinung, welche Sprache ist noch frei?

In den letzten Jahren wurde viel über den figurativen Juden in der deutschen Gesellschaft geschrieben. Darüber, dass jüdisches Leben im heutigen Deutschland trotz reicher, sehr lebendiger und alles andere als harmonischer Vielfalt auf eine ewige homogene Opferrolle festgeschrieben wird, um das Selbstverständnis einer mit sich ausgesöhnten und moralisch guten, deutschen Gesellschaft zu bestätigen. Im deutschen Begehren werden Jüdinnen und Juden durch die Dominanzgesellschaft ermächtigt, solange sie den Regeln des Spiels gehorchen und ihre Rolle brav einnehmen. Ein begehrenswerter Jude ist nämlich keiner, der sich gegen die deutsche Erzählung stellt, und sich schon gar nicht im Bündnis mit anderen rassifizierten und diskriminierten Menschengruppen zusammenschließt, um gegen Antisemitismus und Rassismus der Gegenwart zu kämpfen. 

Mir, wie vielen anderen Jüdinnen und Juden der Gegenwart, geht es aber um jüdische Selbstermächtigung, die losgelöst von einem deutschen Begehren und Erwartungen an »den Juden« ist, dessen Sprachfähigkeit nur dann legitim ist, wenn er zu Antisemitismus (besonders ausgehend von anderen Minderheiten), zur Shoa oder zu Israel spricht. Kritisch blickend auf undifferenzierte Positionen zu dieser Triade, bedeutet jüdische Selbstermächtigung für mich auch eine Verantwortung, die im kulturellen Erbe der Gewalt verortet ist: zurückführend auf eine jüdische Historie von Flucht, Vertreibung und Ausrottung. Es birgt eine Verantwortung gegenüber jenen, die Ausgrenzung, Unterdrückung und strukturelle Gewalt erleben. 

Instrumentalisierungen

Was bedeutet »ausgewogen«, wenn die deutsche Staatsräson Teil der Logik und Praxis der Festung Europas ist? Wenn der Kampf gegen den Antisemitismus die Abschottungspolitik rechtfertigt? Wenn autoritäre Strukturen, wie die Einschränkungen des Versammlungsrechts, die institutionelle Überwachung von Social-Media-Aktivitäten oder die entgrenzte Polizeigewalt und einschlägige polizeiliche Straffreiheit, auf den Schultern der einstigen Opfer, der Jüdinnen und Juden, aufgebaut werden? Anstelle, dass sich dieses Land um seinen grassierenden home-grown Antisemitismus kümmert, fokussiert sich die Politik lieber auf Bekenntniszwänge als Voraussetzung für Zugehörigkeitsmechanismen und auf unsere homogene Reinheit. Es ist eine chutzpah, Jüdinnen und Juden zu Kompliz*innen für rechte Politik zu machen. Wir sollten anfangen, stärker darüber nachzudenken, inwiefern die Instrumentalisierung von Antisemitismus nicht nur moralisch falsch, sondern selbst eine Form von Antisemitismus ist. Durch die Exotisierung, Funktionalisierung und Objektifizierung »des Judens« für politische Interessen wird jüdisches Leben massiv gefährdet. Diese Politik schützt jüdisches Leben nicht – sie spaltet und radikalisiert. Sie schürt antisemitische Ressentiments. 

Durch machtpolitische Interessen wird der Antisemitismusbegriff entleert.

Ich habe schon oft über die Instrumentalisierung von Antisemitismus geschrieben, aber was mich gegenwärtig besonders sorgt, ist die Aushöhlung des Begriffs von Antisemitismus. Durch die pauschale Verschmelzung von Jüdinnen und Juden mit Israel, wird jegliche Kritik an Israels Vorgehen gegen Palästinenser*innen und internationale Solidarität mit ihnen als Bedrohung für jüdisches Leben propagiert. Abgesehen davon, dass dabei durch machtpolitische Interessen der Antisemitismusbegriff entleert wird, schmälert diese Gleichsetzung auch den Schutz jüdischer Menschen in Deutschland, da sie in dieser Logik nur in Israel wirklich sicher sind. 

Gleichzeitig erleben wir eine Aushöhlung des Verständnisses von Antisemitismus auch unter einigen Linken, die die Ängste und Sorgen von vielen Jüdinnen und Juden herunterspielen und dabei alles als rechten Diskurs beschreiben. So heißt es, Antisemitismus sei staatlich überzentriert und diene als bloße Rechtfertigung für Israels rassistische und genozidale Politik. Ich höre immer wieder, wie jüdische Studierende und Kulturschaffende, ungeachtet ihrer politischen Positionierung zu Israel/Palästina, antisemitisch angefeindet werden oder sich nicht mehr sicher fühlen. 

Statt jedoch etwa in profunde Bildungsarbeit und Dialog zu investieren, setzt die Politik auf eine Verschärfung von Polizeigewalt, drohende Abschiebungen und Einschränkungen unserer Grundrechte. Konservative schieben den vermeintlichen Kampf gegen Antisemitismus bzw. den Schutz von Jüdinnen und Juden vor, um rechtspopulistische Politik gegen Migrant*innen, Queers und trans Menschen und gegen Linke zu betreiben.

Während über uns die Gefahr von rechts schwebt, wird also der Begriff des Antisemitismus immer weiter ausgehöhlt, und die reale, ganz plastische Gefahr von Antisemitismus greift nicht mehr, weil alles und nichts als antisemitisch bezeichnet wird. Es wird einerseits darüber diskutiert, ob eine Kufiyah oder »Free Palestine« antisemitisch seien, während andererseits die antisemitischen Vorfälle auf Schulhöfen, im Netz oder in Sicherheitsstrukturen zunehmen. Die Erzählung, dass wir nach 1945 kein virulentes Antisemitismusproblem gehabt hätten, bis die Migrant*innen und Künstler*innen kamen, ist brandgefährlich. Doch auch die Verlagerung der deutschen Verantwortung auf Israels Verbrechen befördert die Schlussstrichdebatte und Holocaustrelativierungen, indem es heißt, Israel sei genauso schlimm, wenn nicht schlimmer als die Nazis damals. Das Reinwaschen der deutschen Schuld durch diese Abwehrhaltung ist eine Gefahr für Jüdinnen und Juden. Ich habe immer gesagt, als Jude in Deutschland zu sein, sei sehr sicher. Das würde ich heute nicht mehr so sagen.

Beyond »Not in my name«

Ich sehe und höre immer wieder die Aufforderung, dass besonders jüdische Menschen sich zu Gaza äußern müssen. Abgesehen davon, dass all jene jüdische Menschen, die ein Ende der rassistischen und genozidalen Politik fordern, als unliebsam gelten – das zeigt sich konkret an der Hetzjagd gegen antizionistische und progressive Jüdinnen und Juden, die sich mit Palästinenser*innen solidarisieren oder durch die Aberkennung ihres Jüdischseins – denke ich, we are beyond »Not in my name«, we are all implicated. Sei es durch deutsche Waffenlieferungen, durch die deutsche Finanzierung des Status quo in Palästina, durch die systematische deutsche Blockade von UN-Resolutionen zugunsten der menschenrechts- oder politischen Situation von Palästinenser*innen oder durch den eigenen Rassismus, der mit dem Verweis auf antisemitische Vorfälle entschuldigt wird. »Not in my name« sollte und darf nicht nur auf den Schultern von jüdischen Menschen lasten. Das gesagt, ist es natürlich wichtig, dass auch immer mehr jüdische Menschen und Israelis anfangen, sich »unbeliebt« zu machen, um dem Horror in Gaza ein Ende zu setzen. Sich zu äußern, besonders als Jude, bedeutet Mut, auch weil es mit einem sozialen, materiellen und Community-Bruch einhergehen kann. 

Die, die sich in Deutschland trauen laut zu sein, sind (noch) eine Minderheit. Der deutsche Diskurs ist nach wie vor geprägt davon, dass Medien und Politik jegliche Solidarität mit Palästinenser*innen als Antisemitismus framen. In dieser Logik kann nur eine anhaltende Besatzung oder Vertreibung, eine kriegerische Bestrafung, vor Antisemitismus schützen. In einer Umkehrung der tatsächlichen Machtverhältnisse im Nahen Osten werden die staatenlosen Palästinenser*innen – die unter anhaltender illegaler Besatzung und Gewalt leben – pauschal zu »Nazis«, und Israel mit einer mächtigen Armee, unterstützt von der Hypermacht USA, zu deren hilflosem Opfer. 

Wenn wir also fragen, welche Leben betrauerbar sind, welche Tode politisch, dann müssen wir auch über das Schicksal von der Hamas verschleppten Geiseln sprechen. Viele von ihnen sind an medizinischer Unterversorgung, Nahrungsknappheit, an ihren Wunden gestorben oder wurden durch die Hamas getötet. Ihre Leben wurden von allen Seiten instrumentalisiert, vergessen oder waren verhasst. Eine Entsolidarisierung mit ihren Schicksalen ist kein Akt der politischen Solidarität mit Palästinenser*innen, sondern zeugt von einer Missachtung grundlegender Menschlichkeit.

Dass ein Ende der Gewalt in Gaza in Sicht ist, ist erst einmal gut. Die letzten zwei Jahre bleiben aber nicht ungeschehen. Ein Genozid bleibt nicht ungeschehen, sondern muss aufgearbeitet werden. Während in Gaza die Hölle zum Alltag wurde, waren die letzten zwei Jahre auch von einem massiven Anstieg an Siedlergewalt und dem Ausbau von Siedlungen im Westjordanland gekennzeichnet. Es braucht eine politische Lösung und keine Augenwischerei, die lediglich darauf abzielt, die Straffreiheit der (Mit-)Schuldigen, die jetzt den sogenannten Frieden bauen, zu sichern. 

Und apropos Solidarität. Ist es nicht paradox, dass uneingeschränkte Solidarität mit und Unterstützung einer rechtsradikalen Regierung die bundesrepublikanische Antwort auf Antisemitismus sein soll? Während die Deutschen zwischen einer unconditional solidarity und »viel zu kompliziert« schwanken, sehen sie sich darin stets als objektive und nichtbetroffene Instanz (dabei trägt Deutschland Verantwortung für die Situation hier und dort). Vom historischen Opfer der Deutschen zum vermeintlichen Opfer der »Araber«, so bleibt »der Jude« ein Objekt des Begehrens und kein eigenständig handelndes und denkendes Subjekt. So kann das deutsche Selbstverständnis als Retter des »Opferjudens« weiterbestehen. Wenn Israel aufhören würde, nur Opfer zu sein, müsste sich Deutschland neu erfinden. 

Würde die Welt nur endlich verstehen: Israelis und jüdische Menschen werden nie sicher sein, solange Palästinenser*innen nicht sicher und frei sind – und vice versa.

Yaelissima

ist Kulturschaffende*r und diskriminierungskritische*r Bildungsreferent*in.