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|ak 718 | Geschichte

Antifaschistisch wandern

Durch die Alpen gelang vielen jüdischen Geflüchteten nach 1945 die Auswanderung, seit 2007 wandern viele die Route nach

Von Thomas Reichart

Ein Gruppe Wandernde hinter einander hinter ihnen eine Felswand
Mit Stock über Stein: Die Teilnehmer*innen erinnern an den Fluchtweg durchs Gebirge. Foto: Resi Lucetti

Mit dem Ende des NS-Regimes war der Antisemitismus in Europa nicht verschwunden. Nach Pogromen wie dem von 1946 im polnischen Kielce flüchteten Tausende Jüdinnen und Juden, überwiegend aus Osteuropa, ins damalige Palästina. Eine wenig bekannte Fluchtroute führte über den 2.634 Meter hohen Krimmler Tauern, vom österreichischen Pinzgau ins Südtiroler Ahrntal. Zwischen 1946 und 1948 versuchten hier geschätzt 5.000 bis 8.000 Menschen ihr Glück. Viele davon waren ehemalige KZ-Häftlinge, mit schlechter Ausrüstung und wenig alpiner Erfahrung.

Zwar war dieser Weg besonders schwierig, aber dafür politisch naheliegend, denn der Übergang lag in der amerikanischen Besatzungszone. Die USA standen der jüdischen Migration nach Palästina wohlwollender gegenüber als Frankreich und England, die die meisten anderen Alpenpässe kontrollierten. Die beiden europäischen Länder waren zugleich Mandatsmächte im Nahen Osten und wollten den Konflikt mit der arabischen Bevölkerung nicht durch weitere jüdische Einwanderung anheizen. Daher wählte die Fluchthilfeorganisation Bricha, die den Exodus orchestrierte, zeitweise diese Route. Aus dem Displaced-Persons-Lager in Saalfelden bei Salzburg wurden die Menschen auf Lastwägen nach Krimml gebracht. Von dort stiegen sie mit ortskundigen Bergführern zumeist nachts zum Krimmler Tauernhaus auf. Die Wirtin Liesl Geisler versteckte und versorgte die Menschen, bis sie bereit zum Weitermarsch waren. Ab hier ging es in hochalpiner Umgebung nach Italien und anschließend weiter mit dem Schiff Richtung Palästina. Erst mit der Gründung des Staates Israel 1948 wurde eine legale Migrationsmöglichkeit geschaffen. Diese fehlt heutzutage fast komplett, Migration wird von weiten Teilen der Politik generell als »irregulär« geframed. Der Migrationsforscher Philip Anderson hält dies für eine bewusste Irreführung, denn wie die Jüdinnen und Juden vor 1948 haben auch heutige Migrant*innen meist keine andere Möglichkeit, als ohne gültige Papiere zu reisen.


Der Berg ist politisch.

Dass die Krimmler Episode einen Platz in der Erinnerungskultur Österreichs bekommen hat, ist hauptsächlich Ernst Löschner zu verdanken. Der ehemalige Bankier erfuhr auf einer Bergtour von der Flucht und rief daraufhin das Alpine Peace Crossing (APC) ins Leben. Seit 2007 erinnert diese Gedenkwanderung an die »Krimmler Judenflucht«. Teilnehmer*innen aus der ganzen Welt begeben sich seither auf dieselbe Route wie die Jüdinnen und Juden um 1947. Rund 19 Kilometer und mehr als 1.000 Höhenmeter beträgt allein die Strecke vom Tauernhaus bis nach Kasern, auch mit heutiger Ausrüstung eine ernstzunehmende alpine Unternehmung. Ljiljana Radonić vom Institut für Kulturwissenschaften an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften betont die Kraft dieser »erlebbaren Erinnerung«. Gerade private Initiativen wie das Alpine Peace Crossing könnten marginalisierte Perspektiven sichtbar machen – wie etwa die jüdischen Fluchtbewegungen nach 1945. Aus diesem Grund sind sie eine sinnvolle Ergänzung zu staatlich organisierter Gedenkkultur.

APC-Gründer Ernst Löschner verstarb Ende 2024, 2025 war das erste Peace Crossing ohne ihn. Beim zugehörigen Symposium am Tag vor der Wanderung wurde seiner gedacht, oben am Pass, wo die österreichisch-italienische Grenze verläuft, wurde zudem eine Plakette für Löschner angebracht. Dass das APC in seinem Sinne weitergeführt wird, dafür sorgt die Leitung des Vereins, der die Wanderung organisiert. Das junge Team rund um Robert Obermair interpretiert Gedenken explizit antifaschistisch. Sei es durch die Auswahl der Vortragenden beim Symposium oder dem Raum, den das APC-Kollektiv antifaschistischer Solidarität einräumt. Oder wie ein Teilnehmer der Wanderung es ausdrückt: »Es besteht oft der Mythos, dass der Berg ein unpolitischer Raum des Natürlichen ist. Der Berg ist jedoch politisch und diese Wanderung ist eine Möglichkeit die Gedenkkultur im Gebirge hochleben zu lassen.« Zu betonen, dass Flucht und Migration eine Konstante in der menschlichen Geschichte ist und bleiben wird, insbesondere in Zeiten verstärkter Kriminalisierung von Flucht und Fluchthilfe, ist nötiger denn je.

Thomas Reichart

ist ausgebildeter Ingenieur aber mittlerweile u.a. Bergwanderführer und freier Journalist mit dem Fokus auf alpine Themen und Bergsportarten, überwiegend tätig für die Bergsteiger-Redaktion des Bayerischen Rundfunks.


Das Alpine Peace Crossing 2026 ist für den 5. Juli geplant.