Der vergessene Faschismus
Die Achsenmächte waren mehr als ein Militärbündnis, Tosaka Juns Analyse des autoritären Japans erinnert an Antonio Gramsci
Von Benjamin Schiffl
Nicht nur in europäischen Ländern waren Faschist*innen in den 1930er Jahren auf dem Vormarsch. Auch in Japan waren faschistische Politik und Denkweisen einflussreich. Das Land hatte eine Zeit des raschen Wandels hinter sich: Nach dem Fall des Herrschaftssystems der Tokugawa, das von 1603 bis 1868 angedauert hatte, setzte Japan in Form einer konstitutionellen Monarchie mit dem Kaiser (Tennō) als Staatsoberhaupt alles daran den technischen, ökonomischen und militärischen Vorsprung des Westens zu verringern. Japan wollte nicht als westliche Kolonie enden und mischte im imperialen Spiel mit. Es gewann den Russisch-Japanischen Krieg und kolonisierte 1910 Korea. Der einflussreichen Kommunistische Partei, die sich 1922 gründete, wurde mit Parteiverboten und scharfer Repression begegnet. Mitte der 1930er Jahre bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs setzten die japanischen Regierungen endgültig einen autoritären, militaristischen und chauvinistischen Nationalismus um: Auf dem chinesischen Festland wurden Kolonien gegründet und weite Teile Südostasiens und des Pazifiks in das Kaiserreich integriert. Die japanische Armee verübte schreckliche Massaker wie im chinesischen Nanjing. Im Zweiten Weltkrieg verbündete sich Japan mit Deutschland und Italien. Im Gegensatz zu diesen Ländern existierte in Japan aber kein Führer oder eine faschistische Massenpartei. Das Militär war Träger der autoritären Herrschaft. Im Inneren wurde mit Zensur und scharfer Repression auf jegliche Opposition reagiert.
Rechte Ideologie
Tosaka Jun war einer der ersten, die eine Analyse des japanischen Faschismus veröffentlichte. 1936 erschien diese als »Nihon Ideorogīron«(»The Japanese Ideology«) und liegt seit 2024 in englischer Übersetzung vor. Obwohl Tosaka Antonio Gramsci nicht kannte, hat er viel mit dem italienischen Kommunisten gemein. Um das Ausbleiben der Revolution in ihren Ländern und das Erstarken des Faschismus zu erklären, rückten für beide die herrschende Kultur und der Alltagsverstand der Massen in den Mittelpunkt ihres Denkens. Tosaka wurde 1900 in Tokio geboren. Für sein Philosophiestudium zog er nach Kyoto, dem Zentrum der noch recht jungen japanischen Philosophie. Dort lernte er die Philosophie der Kyoto-Schule kennen, die den deutschen Idealismus und zen-buddhistische Ideen zusammenführte. Ab 1931 bekleidete er eine Professur für Philosophie in Tokio. Tosaka distanzierte sich im Laufe der Zeit von dieser Denkschule. Er wandte sich dem Marxismus zu und gründete die Yuibutsuron kenkyūkai, die Forschungsvereinigung für Materialismus. Ab 1934 durfte er seinen Beruf wegen seiner marxistischen Gesinnung nicht mehr ausüben. Er publizierte aber weiterhin über Themen wie die Sitten der japanischen Gesellschaft, Technik und die Polizei. Tosaka hatte mit zunehmender Repression zu kämpfen. Der japanische Staat inhaftierte ihn mehrmals. Tosaka stand der Kommunistischen Partei Japans nahe, war aber nie Mitglied und nutzte seine Unabhängigkeit, um den stark auf die Weisungen Moskau gerichteten Kurs zu kritisieren. Er positionierte sich öffentlich gegen den Kriegskurs Japans. Wie Gramsci musste Tosaka seinen antifaschistischen Kampf mit dem Leben bezahlen: Beide starben an den Folgen ihrer Gefängnishaft, Tosaka 1945 kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs.
Ohne Führer oder Massenpartei unterschied sich der japanische Faschismus von seiner deutschen und italienischen Variante.
Wie der Name »The Japanese Ideology« schon andeutet, diente die »Die deutsche Ideologie« von Marx und Engels als Vorbild für seine Studie über den japanischen Faschismus. Nur kritisierte Tosaka in ihr nicht die deutsche Philosophie des 19. Jahrhunderts, sondern die japanische Politik und Philosophie der 1930er Jahre. Tosaka stellte fest, dass Japan kapitalistisch wirtschaftete, aber im Vergleich zu vielen westlichen Staaten noch keine vollständig entwickelte bürgerliche Gesellschaft war. Vielmehr wirkten noch Elemente des Feudalismus fort, gleichzeitig entstanden große Monopole in der Industrie.
Tosaka war ein scharfer Kritiker des Liberalismus. In seinen Anfängen hatte der Liberalismus noch Fortschritt hervorgebracht. Zu Tosakas Zeit konnte er dem Imperialismus und Faschismus aber nichts mehr entgegensetzen. Als kultureller Liberalismus war er unter japanischen Intellektuellen die vorherrschende Denkweise. Die große Mehrheit der japanischen Philosophen war dem Idealismus zugeneigt und schwebte mehr in metaphysischen Sphären als sich mit der konkreten Wirklichkeit zu beschäftigen. Gerade seinen Lehrern aus Kyoto warf Tosaka Alltagsflucht und Elitedenken vor, anstatt die ökonomische und politische Situation der Massen zu analysieren und zu verbessern. Technik wurde von ihnen nicht als Möglichkeit angesehen, das Leben der Massen angenehmer zu gestalten, sondern verteufelt. Hierbei standen sie dem deutschen Philosophen Martin Heidegger nahe. Und ähnlich wie er dienten sich manche von ihnen dem faschistischen Regime an.
Ultranationalismus
An die Schwächen des Liberalismus konnte der Japanismus anknüpfen. So bezeichnete Tosaka den japanischen Faschismus, der Elemente des Monopolkapitalismus und Elemente aus dem Feudalismus miteinander verknüpfte. Die Faschist*innen wollten die japanische Nation von fremden Einflüssen reinigen. Sie taten so, als ob eine einheitliche japanische Kultur und Nation handle, und nicht mehr unterschiedlichen Klassen angehörende Menschen. Viele feudalistische Elemente passte der Faschismus der Zeit an: Die Samurai wurden idealisiert dargestellt, um deren »Geist« für den Militarismus zu nutzen. Die Reaktivierung der feudalen Familie hingegen musste in Widerspruch mit dem Kapital kommen, das Bedarf nach möglichst vielen (und wenn nötig weiblichen) Lohnarbeiter*innen hatte.
Neben diesen ideologischen Manövern schaffte es der japanische Faschismus, auch mit anderen Maßnahmen weite Teile der Bäuer*innen und des Kleinbürgertums zu überzeugen. Die japanische Regierung baute in den 1930er Jahren seine Präsenz auf dem asiatischen Festland aus. Diese Kolonialpolitik brachte kurzfristig materielle Verbesserungen für die Mehrheit der japanischen Bevölkerung. Auch das Militär genoss einen guten Ruf, weil es wegen der Wehrpflicht als eine klassenlose Organisation wahrgenommen wurde. Vielen Bauernsöhnen gelang der soziale Aufstieg in mittlere und manchmal auch höhere Positionen der japanischen Armee. Tosaka zeigte, wie der japanische Staat es schaffte, ohne den ständigen Einsatz von direkter Gewalt, Einverständnis zu erzeugen. Wenn Herrschaft nicht mehr als direkter Zwang erlebt, sondern freiwillig durch die Beherrschten ausgeführt wird, ist dies umso effizienter. Auch hier erinnert Tosaka an Gramsci, der in seinem Hegemoniekonzept betonte, dass bürgerliche Staaten immer auch auf Konsensbildung basieren.
Ohne Führer oder Massenpartei unterschied sich der japanische Faschismus von seiner deutschen und italienischen Variante. Dies veranlasst manche Historiker*innen dazu, Japan nicht als faschistisch zu bezeichnen. Mit Tosaka lässt sich jedoch folgern, dass die japanistische Ideologie die Massen so sehr durchdrungen hatte, dass er diese Formen der politischen Integration gar nicht benötigte. Tosaka meinte, dass der Sozialismus, wenn er den Alltag der Massen beachtet, Vorteile gegenüber der Massenverachtung der idealistischen Philosophen und der Rückwärtsgewandtheit der japanischen Faschist*innen hat. Sein Verständnis der Organisation der Massen lässt sich nur schwer mit der Praxis der bolschewistischen Avantgardepartei der 1930er Jahre vereinbaren. Er betonte, dass Intellektuelle den Massen dabei helfen sollten, sich selbst zu organisieren und für ihre Interessen einzustehen. Tosaka befürwortete die Revolution, aber aus seiner Sicht war sie in Japan ein Fernziel. Die Massen mussten erst wieder Vertrauen in den Sozialismus gewinnen und materielle Verbesserungen durch ihn erfahren.
Die marxistische Theoriegeschichte hat oft einen auf Europa verengten Blick. Während Gramsci weltbekannt ist, hat Tosaka bis jetzt wenig Beachtung gefunden. Dabei kam er zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie sein italienischer Genosse und war ein überaus origineller Denker. Denn gerade die Beachtung der geschichtlichen Besonderheiten des ersten »östlichen« Landes, das den Kapitalismus aus dem Westen übernommen hat, können uns helfen, manches mit einem globalen Blick zu betrachten.