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|Thema in ak 636: 1968

Wenn der Frühling schon im Herbst beginnt

Die Idee für einen Sozialismus jenseits der parteifixierten Erstarrung gab es in der DDR bereits vor 1968

Von Tom Strohschneider

Das ND schweigt«, schreibt Hartmut Zwahr am 11. März 1968 in sein Tagebuch. (1) Es ist der Tag, an dem der Historiker in Leipzig seine Aufzeichnungen aufnimmt, angetrieben von dem, was nur ein paar Hundert Kilometer weiter in Prag begonnen hat. Hier war am 5. Januar 1968 Alexander Dubcek neuer Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei geworden. »Die Ereignisse in der CSSR sind schon seit Wochen in rascher Bewegung«, schreibt Zwahr. Dubcek stand für das Programm einer Liberalisierung und Demokratisierung von oben, das schnell einen Resonanzboden in der Öffentlichkeit, in den Betrieben und unter der Jugend fand: eine Revolution im Sozialismus.

Die wichtigsten tschechoslowakischen Zeitungen sind am Hauptbahnhof in Leipzig in diesen Tagen schon vormittags ausverkauft. Ein Zeichen für die auch in der DDR wachsende Neugier, Hoffnung, Begeisterung. Aber wer etwas darüber wissen möchte, was später »Prager Frühling« heißen wird, wird aus der SED-Presse nichts erfahren. Stattdessen, so schreibt Zwahr, »erscheint ein Bericht, der den Eindruck zu erwecken sucht, als bewege sich das Parteileben in den alten Gleisen fort. (…) Wir ertrinken in Ideologie.« In der Tschechoslowakei und ihren Zeitungen dagegen gebe es »hochinteressante Diskussionen, sachliche, ungeschminkte Beiträge, unbequeme Anfragen, ungeduldige, die Empörung verratende Stellungnahmen über die Notwendigkeit, den ganzen Sumpf auszuräumen«.

Der Traum vom anderen Sozialismus

Im Reigen der diesjährigen, mit linker Geschichte verknüpften Jubiläen steht der »Prager Frühling« nicht eben in der ersten Reihe. 200 Jahre Marx, die Jahrestage 1848, 1918 und 1968 im Westen – das erinnerungspolitische Aufgebot ist groß und die Idee eines demokratischen Sozialismus eher etwas für Randgruppengedenken. Zumal, wenn es um einen Sozialismus geht, der sich aus der bürokratischen, stalinistischen Erstarrung heraus selbst emanzipieren wollte.

Hinzu kommt, dass dieses »1968 des Ostens«, das man nicht auf den »Prager Frühling« reduzieren darf, heute meist in andere geschichtspolitische Raster gezwängt wird. »Der Prager Frühling weckte in den Menschen das Verlangen nach Freiheit«, hieß es unlängst in einem dieser üblichen Erinnerungsstücke – was da als Emanzipation bezeichnet wird, will diese als die Überwindung des sozialistischen Ansatzes gelesen wissen.

Aber darum ging es nicht. Was Alexander Dubcek 1968 mit seinem »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« auf die Tagesordnung setzte, hatte schon eine Vorgeschichte, die nicht nur in der Tschechoslowakei spielte, sondern vor allem auch in der DDR. Mit den sowjetischen Panzern in der Tschechoslowakei wurde 1968 nicht nur eine praktisch gewordene Hoffnung eines anderen Sozialismus niedergewalzt, sondern es wurde auch jener Lernprozess schon im Keim zerstört, der früher begonnen hatte und das Fundament für einen alternativen sozialistischen Weg hätte sein können: wirtschaftspolitische Reformbemühungen, ökonomische Gehversuche, volkswirtschaftliche Korrekturen.

Wir reden hier über eine Zeit, in der Kybernetik neue Ressourcen der gesellschaftlichen Steuerung versprach. In der die Rede vom »Überholen ohne einzuholen« nicht nur eine aberwitzige Phrase irgendeines Parteihäuptlings war, sondern man dafür durchaus wirtschaftliche Indikatoren heranziehen konnte. Eine Zeit, in der sich schon gezeigt hatte, dass man ökonomische Probleme nicht mit Mauern lösen kann. »Seit 1962 diskutierten die Führungsgremien der SED eine grundlegende Wirtschaftsreform«, schreibt Stefan Wolle in »Der Traum von der Revolte«. (2) Ein Kapitel über das »neue Denken« in der sozialistischen Ökonomie und Wirtschaftspolitik setzt er nicht ohne Grund vor die Betrachtung der politischen Erdbeben, die 1968 folgten.

»Es war offensichtlich, dass die DDR ohne eine Erhöhung der Effizienz ihres Wirtschaftssystems immer weiter hinter dem Westen zurückzubleiben drohte. Die sozialistische Volkswirtschaft war dabei, die sogenannte wissenschaftlich-technische Revolution zu verschlafen. Die Anhänger einer Reformpolitik erhielten durch ähnliche Diskussionen unter sowjetischen Ökonomen Ende 1962 den entscheidenden Auftrieb«, so Wolle.

Anknüpfen konnten die Wirtschaftsfachleute in der DDR dabei freilich an frühere eigene Debatten. Arne Benary, Fritz Behrens und andere entwarfen schon in den 1950er Jahren alternative Vorstellungen »zur ökonomischen Theorie und ökonomischen Politik in der Übergangsperiode«. Ihre Kritik an den Folgen bürokratischer Verwaltung, ihre Ansätze zu einer demokratischen sozialistischen Selbstverwaltung der Betriebe und zur wirtschaftspolitischen Rolle des Staates brachten ihnen aber nicht nur den elenden Allzweckvorwurf des »Revisionismus« ein, sondern auch Parteiverfahren.

Knapp zehn Jahre später waren dann Grundzüge ihres Denkens allerdings doch zur Linie einer SED-Spitze geworden, der ökonomisch allmählich die Felle davonschwammen. Nun konzipierten Leute wie Wolfgang Berger – Referent des Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht – Reformen, die an frühere Vorschläge anknüpften. 1963 beschloss eine Wirtschaftskonferenz der SED-Führung das »Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft«. Es sollte zentrale Lenkung und eigenständiges wirtschaftliches Handeln der Betriebe mit dem Ziel verknüpfen, die Arbeitsproduktivität und die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft insgesamt zu heben. Anfang der 1960er Jahre standen Fragen wie die Industriepreisreform im Mittelpunkt, auch sie sollte Elemente des Marktes und der Planung verbinden. (3)

Partei vs. Plan

Peter Ruben hat später darauf hingewiesen, dass hier eine »Grundannahme des Kommunismus« Leninscher Prägung verworfen wurde, indem nämlich das Primat der Politik (der Partei) mit der Idee eines Primates des Marktes als Kriterium des Plans konfrontiert wurde. Für Ruben, der selbst Opfer realsozialistischer Denkverbote geworden war, beginnt hier die Phase einer Dominanz der Wirtschaftspolitik in den nominalsozialistischen Staaten.

Denn die DDR stand nicht allein. 1965 starten Wirtschaftsreformen in der CSSR, 1966 in der UdSSR, 1968 in Ungarn. Die Entwicklung gerät allerdings schon seit Mitte der 1960er Jahre Zug um Zug wieder unter die Räder. Schon im Frühjahr 1964, so Ruben, werden die Reformversuche im Parteiapparat mit der Funktionärsfrage konfrontiert, »ob man nun sozialistische Millionäre« schaffen wolle. Aus allein machtpolitischen Interessen sammelt Erich Honecker auch Kritiker der Wirtschaftsreformen um sich – es geht gegen Walter Ulbricht, der bis 1971 im Grunde an der Richtung festhält, auch wenn er dazu Umwege gehen muss und schließlich doch scheitert.

1964 wird in Moskau Nikita Chruschtschow abgesetzt, den Ulbricht in der Frage als Partner ansehen konnte. Unter Leonid Breschnew wird eine Politik wieder dominanter, in der es für die Satellitenstaaten des Moskauer Universums keine reformpolitischen Spielräume mehr gibt. 1965 erschießt sich in Ost-Berlin der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission der SED, Erich Apel, kurz vor der Unterzeichnung des Wirtschaftsabkommens mit der Sowjetunion für die Laufzeit von 1966 bis 1970. Kurz danach erschüttert das »Kahlschlag-Plenum« des Zentralkomitees der SED die DDR, unter dem Wortführer Erich Honecker legt die Parteispitze einen bleischweren Mantel des politischen Frostes über das Land. (4)

Sozialistische Modelle unter Druck

»In gewissem Sinne kann man sagen«, so Ruben, bedeutete dieses historisch aufgeladene Jahr (1965) »das faktische Ende« der Wirtschaftsreformen, »obwohl sich der Reformabbruch noch zwei Jahre hinzog«. Aber »mit dem Einsatz der Staaten des Warschauer Pakts gegen den Prager Frühling wurde auch der unter anderem vom tschechoslowakischen Ökonomen Ota Sik propagierte und in der DDR intensiv rezipierte Marktsozialismus obsolet – und damit Ulbrichts Idee, den Markt als Kriterium des Plans zu verstehen.«

Mit der Niederschlagung des »Prager Frühlings« im August 1968 von Moskau aus wurde die mit der Wirtschaftsreform verbundene politische Frage nach der Form der Demokratie eines solchen Sozialismus militärisch beantwortet. Daraufhin trat auch für die Beobachter im Westen, die nicht »nur« die Frage der Demokratisierung im Blick haben wollten, eine prekäre Lage ein. So sehr der Prager Frühling verteidigt wurde, so sehr musste man nun neuerlich darum ringen, überhaupt sozialistische Optionen als denkbar, sagbar, machbar zu erhalten. Das wiederum war nicht »nur« eine Frage der politischen Form, sondern eben »auch« eine der Ökonomie.

Hinzu kam, dass mit der Niederschlagung des Prager Frühlings die Debatten über »Wirtschaftsmodelle im Sozialismus« und damit einhergehende »Probleme der neuen ökonomischen Systeme« nicht nur diskursiv unter Druck gerieten – wie sollte man noch über Sozialismus reden, wenn der seine Panzer gegen jede Abweichung auf dem politischen und ökonomischen Millimeterpapier loslässt? Es wurde so auch auf einer praktischen Ebene das Band zwischen Theorie und Aneignung, Versuch und Korrektur, Lernen und Schlussfolgern zerschnitten.

Stefan Wolle hat einmal geschrieben, »die Westachtundsechziger träumten von der Revolution und haben eine gesellschaftliche Reform bewirkt. Die Ostachtundsechziger dagegen wollten den Sozialismus reformieren und haben damit später eine Revolution ausgelöst«. Gegen diese Revolution schickte niemand mehr Panzer.

Fritz Behrens hat in den 1970er Jahren rückblickend eine »Kurze Bemerkung über den Prager Frühling« formuliert. Es sind Thesen, die bis heute aktuell erscheinen, wenn man die Frage eines demokratischen Sozialismus nicht für erledigt hält. Der Ruf nach einem solchen »artikuliert Tendenzen innerhalb der bestehenden, reaktionär-deformierten Gesellschaft eines staatlich etablierten Sozialismus liberale Formen durchzusetzen, die das Leben angenehmer, aber noch nicht nicht-sozialistisch machen«. Progressiver als der reale Sozialismus, der bloß ein nominaler war, sei das aber, so Behrens, in jedem Fall gewesen. (5)

Am 21. August 1968 schreibt Hartmut Zwahr in sein Tagebuch, »der Einmarsch in die CSSR ist erfolgt. Die Folgen sind unausdenkbar.« Seine Befürchtung: »Jetzt werden die Kräfte von gestern aufräumen, auch hier bei uns.« Und er fragt – das Tagebuch ist unter dem schönen Titel »Die erfrorenen Flügel der Schwalbe« erschienen: »Was wird von dem bleiben, was die Tschechen hatten?«

Oder, von heute aus formuliert: Was haben uns Fritz Behrens, Arne Bernary, Ota Sik und viele andere heute noch zu sagen? Die Antworten und auch einen linken Streit über Chancen und Grenzen eines Marktsozialismus wird man nicht dem offiziellen Erinnerungszirkus im Jahr der großen Jubiläen überlassen dürfen.

Tom Strohschneider

ist Redakteur von OXI – Wirtschaft anders denken.

Anmerkungen:

1) Hartmut Zwahr: Die erfrorenen Flügel der Schwalbe. Tagebuch einer Krise (1968-1970). DDR und Prager Frühling, J. H. W. Dietz Nachf. Verlag, Bonn 2007, Vergriffen.
2) Stefan Wolle: Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968, Christoph Links Verlag 2008.
3) Mit der Industriepreisreform wurden erstmals kostendeckende Preise festlegt. Bis dahin galten Festpreise. In drei Etappen sollten Preise eingeführt werden, die die tatsächlichen Herstellungskosten berücksichtigen.
4) Die SED hatte die Entwicklung der Wirtschaft auf die Tagesordnung des 11. Plenums ihres Zentralkomitees gesetzt. Walter Ulbricht bot es die Chance, mit harscher Kulturkritik von der Ökonomie abzulenken. Jeder freien, kritischen oder auch experimentellen Kulturbewegung, die sich in der kurzen Phase der Liberalisierung nach dem VI. Parteitag manifestiert hatte, wurde der Kampf angesagt. Die Tagung des ZK stellt im Rückblick eine tiefe Zäsur dar, die dem vergleichsweise liberalen Kulturschaffen und jeder offenen Debatte über die gesellschaftliche Entwicklung in der DDR ein jähes Ende setzte.
5) Neuveröffentlichung der »Kurzen Bemerkung zum Prager Frühling« von Fritz Behrens in Wladislaw Hedeler und Mario Keßler (Hg.): Reformen und Reformer im Kommunismus, VSA Verlag, Hamburg, 2015.