90 Prozent Ablehnung
Eine der letzten größeren Bewegungen in Russland richtete sich gegen die Rentenreform – worum ging es? Und was wurde daraus?

Spalten, Vertrösten oder schlichte Kommunikationsverweigerung – wenn die russische Führung etwas perfekt beherrscht, dann die Eindämmung öffentlicher Protestaktivitäten. Die Rentenreform war längst beschlossene Sache, als der Großteil der russischen Bevölkerung erstmals davon erfuhr. Im Frühjahr 2018 war Wladimir Putin erneut zum Präsidenten gewählt worden. Einst hatte er versprochen, eine der größten sowjetischen sozialen Errungenschaften nicht anzutasten. Der Kreml gab sich alle Mühe, das Bild vom sozial eingestellten Präsidenten selbst dann noch aufrechtzuerhalten, als die russische Regierung Mitte Juni eine Gesetzesinitiative auf den Weg brachte, die eine schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters vorsah. In der Ende September 2018 verabschiedeten Endfassung ist eine Übergangszeit bis 2028 vorgesehen. Ab dann können Frauen statt mit 55 erst mit 60 Jahren ihre Rente beziehen, Männer statt mit 60 erst mit 65 Jahren. Im Januar 2019 trat das neue Gesetz in Kraft.
Es war nicht der erste Angriff auf soziale Grundrechte im postsozialistischen Russland, aber wohl der einschneidendste. Für die alternde russische Bevölkerung stellen Renten die Basis der Grundversorgung dar. Unmut regte sich schnell, Massenproteste ließen dennoch auf sich warten. Der Grund: Von Mitte Juni bis Mitte Juli fand in Russland die Fußball-Weltmeisterschaft statt, und innerhalb dieses Zeitraums verhängte die Regierung an den Austragungsorten ein Demonstrationsverbot. Nur in anderen Städten kam es zu ersten Aktionen. Als Auftakt für weitere Kundgebungen sammelte die unabhängige Gewerkschaft Konföderation der Arbeit Russlands, KTR, fast 2,5 Millionen Unterschriften gegen die Gesetzespläne. Auch der staatsnahe Gewerkschaftsverband FNPR kritisierte das Vorhaben. Letztlich kam das Gesetz fast ausschließlich mit Stimmen der Kremlhauspartei Einiges Russland durch; etliche Abgeordnete anderer Parteien blieben der Abstimmung fern.
Beim Aktionstag im Juli 2018 gingen Zehntausende auf die Straße.
Angesichts der strikten negativen Haltung gegenüber der Rentenreform in der russischen Bevölkerung – das Meinungsforschungsinstitut Levada-Zentrum ermittelte bei Umfragen eine Ablehnung von 90 Prozent – fiel die Bereitschaft zur Beteiligung an Straßenprotesten eher bescheiden aus. Dieser Umstand darf trotzdem nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um eine der großen Protestwellen der Zehnerjahre in Russland handelte. Am landesweit organisierten Aktionstag Ende Juli 2018 gingen zehntausende Menschen auf die Straße, allein in Moskau mindestens 12.000. Mobilisiert hatten dazu die Kommunistische Partei KPRF und die Linksfront. Letztlich waren es vor allem traditionalistische linke Organisationen und die KTR, die den Protest trugen, wobei sich auffallend viele junge Leute beteiligten. Erst im September 2018 rief auch der später in Haft unter ungeklärten Umständen verstorbene Oppositionspolitiker Aleksej Nawalnyj dazu auf, gegen die Rentenform zu protestieren.
Vergleicht man die Proteste von 2018 mit denen gegen die Abschaffung materieller Sozialleistungen – unter Präsident Boris Jelzin Anfang der 1990er Jahre eingeführt zur Abfederung der Folgen seiner in vielerlei Hinsicht katastrophalen Privatisierungspolitik – fällt auf, dass die Kampf- und Durchsetzungskraft sozialer Protestbewegungen seither stark nachgelassen hat. 2005, also bereits unter Putins Präsidentschaft, setzten die von der Maßnahme in erster Linie betroffenen Rentner*innen noch durch, dass das ursprüngliche Vorhaben zumindest in Teilen revidiert wurde. Damals kam es zu Straßenblockaden, in Tomsk stürmten Protestierende sogar das lokale Verwaltungsgebäude.
Zum Stichtag 1. Januar 2025 verzeichnete die offizielle Statistik in Russland 41 Millionen Rentner*innen. Ohne die letztlich beschlossene Rentenreform wären es rund fünf Millionen mehr. An der Unterfinanzierung des Rentenfonds hat sich hingegen wenig geändert und auch nichts an einem der Hauptgründe für geringe Rentenzahlungen: Das Lohnniveau ist und bleibt insbesondere bei im öffentlichen Sektor Beschäftigten viel zu niedrig, während Rentenbeiträge aus der Schattenwirtschaft ausbleiben.