Ein Zensor packt aus
Viele Mythen ranken sich um die Internetzensur in China – ein seltenes Interview mit einem Beteiligten bietet tiefere Einblicke
Von Yara Gollwitz

Sie ist eines der ambitioniertesten Zensurprojekte der Welt: Mit der »Great Firewall« blockiert die chinesische Regierung ausländische Webseiten und kontrolliert den Informationsfluss ins Land. Zudem unterliegen Webseiten in China einer Zensur, die Nutzer*innen dazu zwingt, immer neue kreative Umschreibungen für sensible Themen zu finden. In der chinesischen Sprache gibt es viele homophone Ausdrücke mit gleicher Aussprache, jedoch unterschiedlicher Bedeutung. So wurde etwa das Wort »Flusskrebs«, das genauso ausgesprochen wird wie »Harmonie«, häufig als Euphemismus für »Zensur« verwendet. Weil einige Themen und Begriffe in China umfassend zensiert werden, hat das dazu geführt hat, dass solche obskuren Umschreibungen ein fester Bestandteil der chinesischen Internetkultur geworden sind.
Aber wie genau die Zensur im chinesischen Internet tatsächlich umgesetzt und nach welchen Prinzipien Posts zensiert werden, weiß kaum jemand. Dem unabhängigen chinesischen Magazin Mang Mang ist es jedoch kürzlich gelungen, ein Interview mit einem Internet-Zensor, der für die größte Suchmaschine Chinas arbeitet, zu führen. Es handelt sich nicht um das erste Interview mit einem chinesischen Internet-Zensor, jedoch ist es außergewöhnlich, dass der Zensor während des Interviews noch bei dem Unternehmen angestellt ist, weil er so ein größeres Risiko auf sich nimmt. In dem Interview gibt er tiefe Einblicke in die widersprüchliche Situation, in der er und seine Kolleg*innen sich aufgrund ihres Berufs befinden. Das Interview wurde auf Chinesisch auf der Seite mangmang.run veröffentlicht. Mang Mang ist ein chinesischsprachiges Magazin, dass nach Protesten gegen die Covid-Lockdowns in China 2022 von Chines*innen in der Diaspora gegründet wurde und Beiträge zu Themen veröffentlicht, die in China nicht diskutiert werden können.
Die offizielle Jobbezeichnung des vom Mang-Mang-Magazin interviewten Zensors Chen Lijia (Name geändert) lautet Content-Moderator für politische Themen. So glamourös wie der Titel ist die Tätigkeit allerdings nicht. Mitarbeiter*innen wie Lijia sind unterbezahlte und überarbeitete Angestellte von Subunternehmen, die für die chinesischen Internet-Unternehmen jeden einzelnen Post überprüfen. »Es handelt sich um eine Gruppe von Menschen, die versuchen, sich Essen zu leisten und zu überleben. Es geht wirklich nur um den Lebensunterhalt und um nichts anderes«, sagt Chen über die Arbeitsmotivation seiner Kolleg*innen.
Schlecht bezahlt und überarbeitet
Ungeachtet der schlechten Bezahlung handelt es sich hier um einen anspruchsvollen Job, da die Zensor*innen jede noch so obskure Umschreibung, die von den User*innen genutzt werden, um die Zensur zu umgehen, kennen müssen. Dafür, sagt Chen, muss er manchmal selbst die Great Firewall umgehen, um sich außerhalb des chinesischen Internets über ein Ereignis zu informieren.
Die Überprüfung kritischer Posts ist keine reine Handarbeit. Ein KI-Programm scannt die Postings der Nutzer*innen und löscht klare Fälle. Die Zensor*innen überprüfen anschließend in zwei Instanzen die restlichen Posts. Sie sperren gegebenenfalls Accounts oder fügen dem KI-Filter neue Schlagwörter hinzu. Täglich überprüfen laut Chen die Erstprüfer*innen etwa 10.000 Inhalte und die Zweitprüfer*innen bis zu 50.000 Inhalte.
Nur die Löschung von Posts über die dramatischen Bedingungen des Covid Lockdowns in der Stadt Xi’an und über eine Naturkatastrophe im zentralchinesischen Zhengzhou haben ein schlechtes Gewissen bei ihm ausgelöst, weil er diese live mitverfolgt hat. »Damals erreichten meine Schuldgefühle einen Höhepunkt, weswegen ich darüber nachgedacht habe, das Unternehmen zu verlassen und überhaupt nicht mehr als Zensor für politische Inhalte zu arbeiten.«
Darüber hinaus hat Chen nach eigener Aussage jedoch wenig moralische Bedenken bei seiner Arbeit. Zum einen, weil er keine Führungsposition innehat und zum anderen, weil er nur für einen Bruchteil des Prozesses verantwortlich ist, der bei der Überprüfung eines Posts abläuft. »Die Arbeit ist extrem fragmentiert. Ich mache nur einen kleinen Teil dieses Prozesses und weiß überhaupt nicht, was in den anderen Teilen passiert.« Trotz seines begrenzten Einblicks in den Zensurprozess zeigt Chen im Interview einige Leitlinien auf, an denen seiner Meinung nach festgemacht werden kann, was zur Zensur eines Posts führt: Wenn staatliche Medien nicht über ein politisches Geschehen berichten dürfen, müssen auch die Posts im Internet dazu zensiert werden. Außerdem gehe es bei der Zensur nicht darum, Kritik an der Regierung zu verhindern, denn manche Posts würden entfernt, egal ob sie die Regierung loben oder kritisieren. Es gehe vielmehr darum, alle Informationen zu einem Ereignis – egal ob positiv oder negativ – zu löschen, damit die Öffentlichkeit den Vorfall vollständig vergisst.
Kritik an der Regierung ist kein entscheidendes Zensurprinzip. Wichtiger ist das Potenzial zur kollektiven Mobilisierung.
Dies widerspricht offensichtlich der weit verbreiteten Annahme, dass Beiträge zensiert werden, weil sie die chinesische Regierung in ein schlechtes Licht rücken oder gar kritisieren. Chens Aussagen stützen eine Theorie, die bereits 2012 aufgestellt wurde und mittlerweile Konsens in der Forschung ist: nämlich, dass Kritik an der Regierung kein entscheidendes Zensurprinzip für »politische« Inhalte ist. Wichtiger ist das Potenzial zur kollektiven Mobilisierung. Je größer die Wahrscheinlichkeit, dass ein Post zu kollektiver Mobilisierung führen könnte, desto eher wird der Post gelöscht und der zugehörige Account gesperrt.
Der Hintergrund: Das Internet stellt weltweit einen wichtigen Raum dar, in dem Menschen ihre Emotionen über gemeinsame Unterdrückungserfahrungen zum Ausdruck bringen können. Auch in China hat dieser Ausdruck von Emotionen in der Vergangenheit zu einer kollektiven Mobilisierung gegen verschiedene Unterdrückungsmechanismen geführt. Im Jahr 2018 fand in China beispielsweise die #Metoo-Bewegung zu großen Teilen auf der Plattform Sina Weibo, dem chinesischen Twitter statt, und 2019 gab der Online-Protest auf der GitHub Seite 996.ICU dem Unmut über die langen Arbeitszeiten in der chinesischen Technologiebranche eine Stimme.
Wider die Orientalisierung der Kritik
Die Zensur in China darf jedoch nicht orientalisiert werden, sondern muss im Kontext der weltweiten Zunahme von Internetzensur gesehen werden. Auch in anderen Ländern ist das Ziel von Zensur, das Potenzial für kollektive Mobilisierung einzuschränken. Auch die indische Regierung steht in der Kritik, durch Internetregulierungen Inhalte auf sozialen Medien zensieren zu lassen, um kollektive Mobilisierung zu stoppen, wie zuletzt im Februar 2024 während der Bauernproteste. Auch bei dem amerikanischen Social-Media-Unternehmen Meta, zu dem Instagram und Facebook gehören, ist laut Human Rights Watch eine Zunahme der Zensur von Inhalten erkennbar, die ebenfalls Inhalte betrifft, die in Deutschland gepostet werden. Ein Beispiel: die Unterdrückung palästinensischer Inhalte auf Instagram und Facebook.
Die weltweit umfassendste und ausgeklügelteste Form der Internetzensur findet sich dennoch in der Volksrepublik. Seit Xi Jinping 2013 Staatspräsident der Volksrepublik Chinas wurde, hat die Repression gegen die Zivilgesellschaft stark zugenommen, was beispielsweise den Kampf für Arbeitsrechte oder die Durchführung von Kampagnen gegen sexuelle Belästigung deutlich erschwert. Auch die staatlichen Vorgaben, welche Inhalte im chinesischen Internet nicht veröffentlicht werden dürfen, wurden seit 2013 stark ausgeweitet. Um diese Vorgaben zu erfüllen, wenden chinesische Internetunternehmen immer ausgefeiltere Zensurstrategien an.
Soziale Bewegungen, die sich über das Internet mobilisieren, sind daher in den letzten Jahren aufgrund der Internetzensur nachweislich schwächer geworden. Auch in der Volksrepublik werden unterschiedliche Unterdrückungsmechanismen zur Aufrechterhaltung der Klassengesellschaft genutzt. Darum kann das Hervortreten von kollektivem Widerstand in der digitalen Sphäre nie völlig unterbunden werden. Gerade deswegen schieben Zensoren wie Chen, die ihre Arbeit oft selbst nur aus existenziellen Gründen ausführen, Überstunden, um die KI-Programme der Unternehmen zu verbessern, damit diese die Zensurvorgaben noch präziser umsetzen können. Trotz dieser zunehmend anspruchsvollen Zensur-Maschinerie wird die chinesische Gesellschaft weiterhin Wege finden, das Internet als Raum zur Organisierung von kollektivem Widerstand zu nutzen – und wie in früheren Kampagnen neue Wege finden, die Zensur zu umgehen.