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|ak 689 | Wirtschaft & Soziales

Wenn Tarifverträge Sünde sind

Die Schlechterstellung von Leiharbeit wird künftig schwieriger, die DGB-Gewerkschaften hätten diese Praxis jedoch schon längst beenden können

Von Mag Wompel

Weder die IG Metall, noch die anderen DGB-Gewerkschaften haben sich in den letzten Jahren mit Ruhm bekleckert, wenn es um die Rechte von fast einer Millionen Leih- und Zeitarbeiter*innen in Deutschland ging. Foto: tonal decay/Flickr, CC BY 2.0

Kann ein Tarifvertrag Sünde sein? Alberne Frage, wurden doch Gewerkschaften gegründet, um der Macht des Kapitals diejenige der Lohnabhängigen entgegenzusetzen und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen zu erkämpfen. Und undenkbar, leiden doch alle unter der abnehmenden Tarifbindung in der Arbeitswelt. Ja, da war aber was, es nennt sich »Standortsicherungsvertrag«. Dieser verzichtet auf tarifliche Errungenschaften (Lohnanteile, Arbeitszeit und Pausen zum Beispiel), um eben den Standort (und damit natürlich Arbeitsplätze) zu retten – vermeintlich. Schon seit etwa 30 Jahren gibt es dieses Instrument. Nun, das zählt nicht, mögen da einige einwenden, handelt es sich bei den Standortsicherungsverträgen doch um Betriebsvereinbarungen und jede*r weiß, wie erpressbar Betriebsräte sind. Gewerkschaften würden sich nie mit einem Tarifvertrag gegen die Rechte ihrer eigenen Mitglieder richten! Wirklich?

In der Leih- und Zeitarbeit gilt seit 2004 laut Gesetz »equal pay« und »equal treatment«, das heißt gleiche Bezahlung und gleiche Behandlung gegenüber den Festangestellten. Zumindest, solange kein Tarifvertrag existiert, der anderes für die Branche regelt. »Tarifdispositiv« nennt sich diese Tür zur gewerkschaftlichen Sünde. Solche abweichenden Tarifverträge der DGB-Gewerkschaften werden seit 2002 immer wieder neu verhandelt. Und das, obwohl die ursprüngliche Ausrede für diese Praxis längst nicht mehr gilt: Die einstmals bestehende Konkurrenz durch die Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalservice-Agenturen (CGZP). Die CGZP wurde 2015 für nicht tariffähig erklärt. Von da an hätten sich die DGB-Gewerkschaften einfach weigern können, die Arbeitsbedingungen für Leih- und Zeitarbeiter*innen in separaten Tarifverträgen zu verhandeln. Doch es ist die alte Haltung der Gewerkschaften »Hauptsache mit uns«, die sie dazu bewegt, diese Öffnungsklausel im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) weiterhin zu nutzen, mit der die tarifliche Schlechterstellung von Leih- und Zeitarbeit überhaupt erst ermöglicht wird.

Einfach nichts tun

Die DGB-Tarifgemeinschaft nutzt also ohne Not diesen sogenannten »Tarifvorbehalt« und trägt damit aktiv zur (zusätzlichen) Spaltung der Belegschaften bei. Ebenso wie zur Zementierung von Niedriglöhnen, von denen die meisten Leiharbeiter*innen nicht leben können und daher Hartz-IV-Aufstockungen erhalten.

Die DGB-Tarifgemeinschaft trägt aktiv zur (zusätzlichen) Spaltung der Belegschaften bei.

Der innergewerkschaftliche Widerstand dagegen hält sich auch deshalb in Grenzen, weil einerseits die Leiharbeit*innen kaum organisiert sind – warum wohl? – und andererseits viele, wenn nicht gar ein Großteil der Stammbelegschaften, ihre prekär beschäftigten Kolleg*innen als willkommene Puffer ihrer eigenen Arbeitsplatzsicherheit sehen.

Dabei wäre es eigentlich eine fantastische Konstellation für eine Gewerkschaft: durch bloßes Nichtstun die Arbeitsbedingungen von fast einer Million Menschen mitzugestalten, die während ihres Einsatzes als Leiharbeiter*innen einfach unter die geltenden Tarifverträge »schlüpfen« könnten. Doch weder anfängliche Proteste noch Unterschriftensammlungen bei den Tarifverhandlungen zur Leiharbeit noch die anhaltende Kritik am gewerkschaftlichen Umgang mit diesem Regelungsbereich konnten den Apparat bis heute dazu bewegen, den Tarifvorbehalt aufzugeben. Das immer gleiche Prozedere – mittlerweile leider ohne begleitende Proteste bei den Verhandlungen – verhindert immer wieder aufs Neue das gesetzliche Gebot von »equal pay« und »equal treatment«, das zugleich eine uralte gewerkschaftliche Forderung ist.

Für die gewerkschaftliche Linke blieb da nur der unliebsame, aber letztmögliche Weg: der juristische. Dies war die in der ZDF-Sendung »Die Anstalt« vom Mai 2017 vorgestellte Kampagne von Professor Wolfgang Däubler und LabourNet Germany. Gesucht wurden Leiharbeiter*innen, die ihr Recht auf gleiche Bezahlung einklagen und die dabei bis vor den europäischen Gerichtshof (EuGH) gehen würden – mit dem Ziel, dass diese Tarifverträge für rechtlich ungültig erklärt würden. (1)

Über tausend E-Mails und Monate ehrenamtlicher Arbeit wurden darangesetzt, um notfalls über alle Instanzen nachzuweisen, dass die Tarifverträge der DGB-Tarifgemeinschaft den im EU-Recht vorgeschriebenen »Gesamtschutz« nicht erfüllen, wenn der Leiharbeitstarif bis zu 40 Prozent unter dem Stammarbeitstarif liegt.

Eine unserer Klagen hat es bis zum EuGH geschafft, und seit 15. Dezember 2022 liegt ein Urteil vor: Tarifverträge, die keine Kompensation für schlechtere Arbeitsbedingungen vorsehen, sind unzulässig und damit unwirksam. Doch leider sind die DGB-Tarife damit nicht einfach rechtswidrig, und das Bundesarbeitsgericht (BAG) wird zu entscheiden haben, wie eine mögliche »Kompensation« aussehen könnte. Und ob auch zukünftig individuell geklagt werden muss, wenn so eine Kompensation nicht erfolgt oder als nicht ausreichend angesehen wird.

Freizeit gegen Lohn

Wichtiger sind mir die Zweifel am Wert von »mehr Freizeit«, die als Kompensation gehandelt wird. Einerseits erscheint es schon als elitär zu glauben, für die meist vom Niedriglohn lebenden Leiharbeiter*innen sei etwas mehr Freizeit eine hilfreiche Kompensation für den massiven Lohnverlust gegenüber den Stammbelegschaften. Viele würden sich in dieser »Freizeit« wahrscheinlich – auch angesichts der gestiegenen Wohn- und Lebenshaltungskosten – einen zweiten oder gar dritten Job suchen müssen. Andererseits verschleiert ein solcher Freizeit-für weniger-Lohn-Ausgleich die Tatsache, dass Leiharbeiter*innen nicht nur bei der Bezahlung, sondern auch bei allen anderen Arbeitsbedingungen diskriminiert werden. Wie viele Tage Urlaub würden denn reichen, um nicht nur zukünftig den Lohnunterschied, sondern auch die bereits entgangenen Löhne und den generell geringeren Urlaubsanspruch gegenüber den Stammbelegschaften auszugleichen?

Natürlich ist dieses Urteil eine Bestätigung unserer Vorwürfe und es wird auf jeden Fall die Profite der Kapitalseite und damit hoffentlich den Einsatz der Leiharbeit senken. Bei mir bleiben allerdings Wünsche offen. Weniger Akzeptanz der Leiharbeit selbst und des Tarifvorbehalts im Urteil zum Beispiel. Das wäre allerdings zu viel gewünscht, der EuGH hat nur die Fragen des BAG beantwortet, nicht meine.

In meinem ak-Artikel von 2017 lautete mein Traum: »In Anerkennung ihrer früheren Fehler haben die DGB-Gewerkschaften unter Androhung eines Generalstreiks ein Verbot der Leiharbeit durchgesetzt.« Nun bin ich realistischer geworden und würde mir wünschen, dass die DGB-Tarifgemeinschaft die nächsten Tarifverhandlungen zur Leiharbeit einfach absagt. Was würde passieren? Das, wofür wir seit sechs Jahren kämpfen: gleiche Bezahlung und gleiche Behandlung von Leiharbeiter*innen vom ersten Tag an! In der aktuellen Verhandlungsrunde, die am 13. Januar einen neuen Leiharbeit-Tarifvertrag hervorgebracht hat, forderte der DGB mehr »Wertschätzung« gegenüber den Arbeiter*innen – selbst nicht zur Verhandlung zu erscheinen, wäre die größte gewesen!

Mag Wompel

 ist Industriesoziologin und Redakteurin des LabourNet Germany.

Anmerkung

1) Siehe für die komplizierte juristische Lage und die Klagekampagne das Dossier dazu im LabourNet Germany: https://www.labournet.de/?p=116170