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Wholesome Highschool

Wenn die Serie besser ist als dein Leben

Von Joana Splieth

Der zweite Lockdown hat gerade erst begonnen und ich hänge schon wieder abends in meinem Zimmer und streame Netflix. In Zeiten wie diesen, in denen eine Krise die nächste jagt und einmal mehr nicht wegzureden ist, wie abgefuckt und kaputt uns das kapitalistische System macht, verlangt mein Gehirn nur nach einem: heilenden Momenten. Im realen Leben sind die eher kurzlebig und ich kann sie nicht im Endlosmarathon in mich hineinschaufeln. Daher ende ich immer wieder vor dem Laptop und versinke in mein liebstes Seriengenre: die Teenage-Highschool-Serie.

Ich heule Tränen der Erleichterung über solidarische Schwesternschaft, wenn Aimee (Aimee Lou Wood) in »Sex Education« gemeinsam mit und gestärkt von ihren Freundinnen endlich wieder in dem Bus fahren kann, in dem ein Mann sie sexuell belästigt hatte. In »On my Block« freue ich mich darüber, dass zwei Freundinnen gefühlt zum ersten Mal überhaupt in einer Highschool-Serie nicht ihre Beziehung beenden, nur weil sie denselben Typen geküsst haben. Und in »Get Even« wehren sich vier eigentlich gar nicht befreundete Mädchen gemeinsam gegen den übergriffigen und psychisch missbrauchenden Sport-Coach, sodass er gefeuert wird. Dieser sensibel geschriebene und empowernde Umgang mit sexistischen Vorfällen ist Balsam für meine Seele und war bisher relativ selten in der Streamingwelt.

Die Teenage-Serien, mit denen ich aufgewachsen bin, gingen eher in die Richtung von »Gossip Girl«: Der Cast war komplett weiß und reich, die Rollen der Hauptdarstellerinnen sehr simpel. Eine von ihnen war hoffnungslos traurig, die andere beliebt und oberflächlich. Beide wurden andauernd von Männern gerettet, ihre Freundschaft ging wegen Männern kaputt und am Ende wurden sie doch wieder, dank dieser Männer, versöhnt. Komplexer wurde der Plot nie.

Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass gerade am laufenden Band Serien für Netflix produziert werden, die diese Klischees nicht ungebrochen wiederholen – auch wenn weder die Welt noch die Filmbranche sehr viel feministischer geworden sind. Zu erklären ist das vor allem mit dem neuen Absatzmarkt, den Netflix mit progressiveren Serien erschlossen hat: »Sex Education« wurde beispielsweise nach Angaben des Streaming-Anbieters in den ersten vier Wochen nach Erscheinung über 40 Millionen mal angeschaut.

Zwar geht es in den Serien nicht um die große und tiefgreifende Rassismus- oder Kapitalismuskritik, aber sie drücken dort ein Pflaster auf offene Wunden, wo die eigene Teenagerzeit ernüchternd und traurig war. Gerade FLINT*-Personen, dicke Menschen und BIPoCs, die bisher wenig in Serien repräsentiert wurden und werden, finden sich in den diverseren Casts wieder. In »Never Have I Ever« geht es zum Beispiel darum, wie es sich für Devi (Maitreyi Ramakrishnan) anfühlt, als Tochter indischer Einwanderer*innen in den USA aufzuwachsen. Alltäglicher Rassismus wird dabei genauso gezeigt wie das kulturelle Hin und Her der Teenagerin zwischen hinduistischen Festen und weißer US-amerikanischer Alltagskultur. In »On my Block« verarbeitet Ruby (Jason Genao) seine Gewalterfahrungen durch Gang-Kriminalität gemeinsam mit Oscar (Julio Macias), selbst Teil einer Gang. Zusammen durchbrechen sie das so oft im Film dargestellte Schema von »guten« (fleißigen) und »schlechten« (gewalttätigen) Latinos und Latinas.

Ehrliche und solidarische Momente wie diese sind in der Realität rar gesät. Nach der Schule erwartet uns nicht die von der Gesellschaft versprochene Klarheit, Ruhe und Stabilität. Stattdessen beschert uns der tägliche Wahnsinn im Kapitalismus das Gegenteil. Die neuen Highschool-Serien geben den verletzten Teenager*innen in uns, trotz all der berechtigten Kritik an kommerzialisierten Streaming-Produktionen, das Gefühl, gesehen und verstanden zu werden.

Joana Splieth

Joana Splieth studiert Kulturwissenschaft und Dokumentarfilmregie. Außerdem ist sie Teil der Redaktion von »HUch – kritische Studierendenzeitung« an der Humboldt-Universität zu Berlin.