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|ak 718 | Feminismus

Sex in Bewegung

Seit über 35 Jahren kämpfen Intersex-Aktivist*innen gegen medizinische und vergeschlechtlichte Gewalt – nun gibt es ein umfassendes Porträt über die Bewegung

Interview: Liola Mattheis und Thekla Molnar

Der Schutz von Kindern vor medizinischen Zwangsbehandlungen ist eine der Kernforderungen der Intersex Bewegung. Foto: Sparrow (麻雀), CC BY 4.0

In enger Verflechtung mit queeren und feministischen Aktivist*innen formiert sich Anfang der 1990er Jahre eine Intersex-Bewegung. An dieser sticht besonders die mutige und bissige Ästhetik hervor, die ihren Widerstand gegen die alltäglichen Formen von klinischer Gewalt kennzeichnet. Im Gespräch mit ak erklärt die Autorin Juliana Gleeson, was die Intersex-Bewegung erfolgreich macht, welche Phasen sie durchlief und was Linke im Kampf gegen den Faschismus von ihr lernen können.

Die Intersex-Bewegung hat nie allein gehandelt – Allianzen, besonders mit queeren und feministischen Akteur*innen, waren durchweg wichtig. Ist das ein reibungsloses Verhältnis?

Juliana Gleeson: Die Intersex-Bewegung entstand in enger Verflechtung mit anderen polit-kulturellen Kämpfen, die das späte 20. Jahrhundert prägten. Speziell lässt sich die Intersex-Bewegung als Sprössling von feministischer Theorie und HIV/AIDS Agitprop verstehen. Erst durch die kritische Forschung feministischer Autorinnen wie Suzanne Kessler und Anne Fausto-Sterling begannen überhaupt Leute, sich selbst als intersex zu verstehen und zu politisieren. Ihre Analysen machten es möglich, die schmerzhaften klinischen Erfahrungen zu benennen, die das Leben vieler intersex Personen geprägt hatten. Auch weitere Allianzen waren zentral für die frühen strategischen Erfolge des Intersex-Aktivismus: von der Mitgliedsrekrutierung in schwulen Zeitungen der Bay Area über eine Sonderausgabe im trans Kulturmagazin Chrysalis Identity Journal bis hin zur Unterstützung durch frühe transfeministische Gruppen wie Transsexual Menace, die der Intersex Society of North America (ISNA) bei ihrem Protest in Boston zur Seite standen. 

Welche Phasen hat die Intersex-Bewegung denn bisher durchlaufen? 

Die Gründung von ISNA im Jahr 1993 und der erste öffentliche Protest vor der American Academy of Pediatrics (berufliche Vertretung der Pädiatrie, Red.) drei Jahre später lassen sich als Startpunkt für eine globale Ausbreitung des Intersex-Aktivismus verstehen. Im Laufe der 2000er Jahre wurde die ISNA entgegen ihrem ursprünglich provokanten Gestus zunehmend zu einer klassischen NGO. In fragwürdigen Koalitionen mit dem medizinischen Establishment versuchten frühere feministische Verbündete, das Management der Aktivist*innen zu übernehmen – wenn auch nicht unwidersprochen, wie die Gründung der heterogener aufgestellten Organisation of Intersex International (OII) unter Beweis stellt. Bei der ISNA setzte sich die Annäherung an Sprech- und Arbeitsweisen von stärker institutionalisierten LGBT- und Menschenrechtsorganisationen auch in den 2010er Jahren fort. Zuletzt lässt sich jedoch eine Entwicklung ausmachen, die weg von der starken geografischen Verortung in den USA führt und sich eher als ein »Kampf ohne Zentrum« beschreiben lässt. So standen Kampagnen der Intersex-Bewegungen in Lateinamerika und Afrika Modell für die lokalen US-amerikanischen Erfolge der letzten Jahre.

Juliana Gleeson

 ist Autorin und Herausgeberin. Sie kommt aus (West-)London und lebt nun in (Ost-)Berlin. Ihre Kritiken, Interviews und Essays sind in vielen verschiedenen Formaten erschienen. Im Jahre 2021 hat sie den wegweisenden Sammelband »Transgender Marxism« mitherausgegeben.

Foto: Nicky Miller

Du hebst besonders die Ästhetik der Organisierung hervor – speziell sprichst du von einem »edgy 90s« Stil, der die Anfänge der Intersex-Bewegung kennzeichne. Was meinst du damit?

Im Rückblick erscheint der »edgy« Stil im Intersex-Aktivismus, der sich zu Beginn der 1990er Jahre formierte, als eine bissige Parodie medizinischer Fachbücher, indem sich Aktivist*innen Fachjargon aneigneten und klinisches Vokabular satirisch wendeten. Mit ihrem makabren Humor untergrub die Bewegung die vermeintliche Objektivität jener Mediziner*innen, die für die Gewalt an intersexuellen Menschen mitverantwortlich waren. Anstatt sich also von erlittenem Leid überwältigen zu lassen, konnte die Bewegung mit dieser rhetorischen Strategie Außenstehende aufrütteln. Damit steht sie in Kontinuität mit queeren Organisationsformen der 1990er Jahre, die sich Abwertungen spielerisch aneigneten und sich mit Insider-Witzen gegen alltägliche Queerfeindlichkeit abgrenzten.

Der Titel deines Buches »Hermaphrodite Logic« legt nahe, dass die Bewegung Lektionen mit allgemeiner Gültigkeit bereithält. Was meinst du mit einer hermaphroditischen Logik? 

Der Intersex-Bewegung ging es nie darum, sich von einem rationalen Bezug auf Geschlecht (sex) zu lösen. Hätte sich ihre politische Strategie auf Schocktaktiken und den Verweis auf persönliche Erfahrung beschränkt, so hätte man sie weitaus leichter als unbedeutend abtun können. Doch gerade dadurch, dass sie sich innerhalb der vorgegebenen, wenn auch asymmetrischen und unfairen medizinischen Diskurslogiken bewegte, stellte sie für die Ärzt*innenschaft eine enorme Herausforderung dar. Das medizinische System, unfähig, auf diesen scharfzüngigen Humor zu reagieren, geriet so in einen Zustand der »Störung«.

Außerdem wollte ich mit dem Titel wohl auch auf Hegels Logik anspielen. Während Hermaphroditen üblicherweise als das Partikulare schlechthin gesehen werden, verschwistert mein Titel sie mit dem great grey granddaddy der Systematik.

Besteht in einer solchen Praxis und ihrer Darstellung im Buch nicht die Gefahr, Rationalität zu fetischisieren und Aktivismus einer bestimmten Klasse zuzuschreiben?

Sicherlich ist es nicht frei von Risiken, klar darzustellen, wie wenige Leute Mitte der 1990er Jahre auf die Straße gegangen sind. Und wie gut gebildet die wenigen, die es taten, waren. Aber die Haltung der Historiker*in gegenüber den Leser*innen sollte von Vertrauen gekennzeichnet sein, von der Überzeugung, dass letztere lieber eine verlässliche als eine bequeme Darstellung wollen. Die kritischen Fragen können wir uns erst stellen, wenn wir uns wirklich mit dem Archivmaterial auseinandersetzen.

Warum also waren die frühen Mitglieder der ISNA so gut gebildet? Vermutlich ist es immer die Intelligenzija, die besonders befähigt ist, sich klinischer Autorität zu widersetzen. Aber in den 1990er Jahren verbreitete sich im Zuge des Biotech-Booms und der Ausbreitung des Internets »professionelles« Wissen weitläufig. Enzyklopädien lösten sich in Memes auf. Dass die Intersex-Bewegung fließend in Medizinsprech wurde, passt dazu, dass sie ihren Auftritt in den finalen Zügen der Gegenkultur des 20. Jahrhunderts hatte.

Sogar die normalisiertesten Verletzungen, die uns angetan werden, um die Ordnung aufrechtzuerhalten, können angefochten werden – und zwar schon von wenigen entschlossenen Personen.

Sophie Lewis zufolge tragen deine Arbeiten zu einem »Marxism against cisness« bei. Nun kommt Marxismus in deinem aktuellen Buch nicht explizit vor. Inwiefern lässt sich Hermaphrodite Logic trotzdem im Anschluss an deine früheren Arbeiten zu einem Transgender Marxism verstehen?

Verdanken wir Marx eher Schlussfolgerungen oder eine Methode? Ich glaube, dass Marx sich bei jedem Buch aufs Neue an lebhaften Debatten zu revolutionärer Politik orientierte, anstatt eine Philosophie vorzulegen, die es Satz für Satz zu entschlüsseln gilt. (So sehr ich auch Kapital-Lesegruppen schätze!) Die Bücher, an denen ich arbeite, verfolgen ebenfalls einen je eigenen Zweck: In »Transgender Marxism« – das ich gemeinsam mit Elle O’Rourke herausgegeben habe – ging es darum, bestehende Ansätze zu Transition und Klassenkampf zu versammeln und weiterzuentwickeln.

Bei Hermaphrodite Logic lag mein Fokus hingegen darauf, der Intersex-Bewegung an sich gerecht zu werden. Und zwar so, dass die Anliegen der Bewegung im Mittelpunkt stehen und den theoretischen Zugriff bestimmen und die Theorie sich wiederum in der Anwendung auf die Anliegen der Bewegung bewährt.

Daher finden sich in Hermaphrodite Logic neben Marx eine ganze Bandbreite von unterschwelligen Referenzen, so wie Helen Hesters queer amateurism, Lorraine Datsons Arbeiten zu Objektivität, Sylvia Wynters Argumente zu weiblicher Genitalbeschneidung und Gillian Roses Figur des spöttischen Engels. Das Buch serviert also ein Buffet von – vorverdauten – Einflüssen.  

Wie unterscheidet sich dein Buch von bisherigen Perspektiven auf Intersexgeschichte?

Es gibt mehr Versionen dieser Geschichte als ich aufzählen könnte! Egal, wo sie historisch ansetzen: Selten stellen bestehende Arbeiten Intersex-Aktivist*innen als Protagonist*innen in der Geschichte von Geschlecht (sex) dar. Um aber genau das zu tun, beschränkt sich mein Buch auf eine Periode von 35 Jahren, von 1990 bis heute. Dadurch kann ich das Aufbegehren gegen klinisches Management in den Mittelpunkt rücken. Außerdem richtet sich Hermaphrodite Logic nicht primär an eine akademische Leser*innenschaft.

Aktuelle Faschisierungstendenzen gehen mit panischer Polizierung einer zweigeschlechtlichen Ordnung einher. Was können wir von der Geschichte der Intersex-Bewegung in Bezug auf diese repressiven Versuche lernen?

Sogar die normalisiertesten Verletzungen, die uns angetan werden, um die vergeschlechtlichte Ordnung aufrechtzuerhalten, können angefochten werden – und zwar schon von wenigen entschlossenen Personen, die die Gewalt des Systems besonders hart erfahren. Das hat die Intersex-Bewegung klar gezeigt. Von ihr können wir außerdem lernen, dass Empörung nicht auf Kosten unseres Vernunftgebrauchs gehen muss. Wir sollten uns also nicht von gesellschaftlichen Kräften abbringen lassen, die behaupten, dass wir nie eine Stimme haben, nie unter fairen Bedingungen werden sprechen können. Unsere Rechenschaft und unsere kollektive Umgestaltung ist die größte Angst der Faschist*innen. Sex is expressive – Vergeschlechtlichung ist immer Ausdruck von etwas, und selbst unsere Knochen können neu arrangiert werden.

Thekla Molnar

forscht an der Schnittstelle von Marxismus und Queer-Theorie und lebt in Berlin.

Liola Mattheis

arbeitet wissenschaftlich und literarisch an kritischen Entwicklungs- und Naturbegriffen.