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»Die Revolution aus dem Schoße der Trauer?«

Es war ruhiger geworden um die Protestbewegung im Libanon – bis zur Explosion Anfang August in Beirut

Von Miriam Younes

Eine Frau mit Maske steht vor einem zertrümmerten Haus
Die Menschen in Beirut warten immer noch: auf ein Handeln, auf eine Aufklärung, auf eine Entschuldigung. Foto: medico international

Am 1. August feierte die libanesische Armee ihren 75. Geburtstag. In einem pompösen Glückwunschkonzert, das von dem Verein »Lebanese and Proud« unter der Schirmherrschaft des Armeekommandeurs General Joseph Aoun organisiert wurde, sang der Chor unter anderem das Lied »Ya Beirut« der libanesischen Sängerin Majida al-Roumi. Die für das libanesische politische Establishment in gegenwärtigen Zeiten wohl zu provokante Zeile des Liedes, »die Revolution wird geboren aus dem Schosse der Trauer«, wurde in der Geburtstagsfeier nicht gesungen, sondern durch ein aussagekräftiges »lalalala« ersetzt. Am nächsten Tagen wurden Hunderte Profilbilder auf Facebook durch einen Filter ersetzt, der die verlorene Zeile des Liedes auf den unteren Teil des Bildes postet.

Die kleine Episode, die vor allem auch für viel Gelächter unter den Libanes*innen sorgte, zeigte, dass trotz relativer Ruhe auf den Straßen des Libanons in den letzten Wochen und Monaten weder die politischen Eliten, noch die diese Eliten ablehnende Opposition das Projekt der »thawra«, der libanesischen »Revolution«, aufgegeben oder vergessen hatten – sei es auch nur in der symbolischen Form von Liedern und Facebookprofilbildern.

Nur drei Tage später bekam die Zeile des Liedes, die Trauer und politischen Umsturz in enge Verbindung zueinander bringt, innerhalb von Sekunden eine neue Wirklichkeit, deren Ausmaß wohl in diesem Moment den Wenigsten bewusst wurde. Am Hafen von Beirut explodierten am 4. August um 18:07 Uhr 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat, die dort nach derzeitigem Kenntnisstand seit September 2013 auf dem Weg von Georgien nach Mosambik »zwischengelagert« wurden.

Die Gefahr dieser hochexplosiven Chemikalie und ihrer Lagerung war hochrangigen Politiker*innen im Land über drei Legislaturperioden bekannt, erst im letzten Monat warnten libanesische Sicherheitsbeamt*innen den damaligen (und am 10. August zurückgetretenen) Premierminister Hassan Diab und den derzeitigen Präsidenten Michel Aoun vor der möglichen Gefahr der Lagerung. Ihr Nichthandeln und das Nichthandeln früherer Politiker*innen führten am 4. August zu geschätzten 170 Toten, tausenden Verletzten, Dutzenden Vermissten und geschätzten 300.000 Obdachlosen, sowie einer in großen Teilen zerstörten Stadt. Die Menschen im Libanon warten weiterhin – nicht nur auf eine Entschuldigung, auf ein Schuldbekenntnis oder eine Übernahme von Verantwortung von Seiten der politischen Elite –, sondern auch auf irgendeine Form von Handlungsbereitschaft, sei es was Aufräum- und Wiederaufbauarbeiten, Nothilfe oder eine Aufklärung des Vorfalls angeht.

Die direkte Verantwortung für und gleichzeitige (Nicht-)Reaktion der libanesischen politischen Elite auf die Explosion des 4. August trifft den Libanon in einer Zeit, in der die Menschen im Land eine tragische Akkumulation genau dieser politischen Handlungsmuster erleben. Eine von denselben politischen Eliten über Jahrzehnte hausgemachte Wirtschaftskrise trifft den Libanon seit Monaten in ungewohnter Härte und lässt die Menschen in zunehmender Verarmung und Perspektivlosigkeit zurück. Auch hier schieben sich die Regierung der letzten Monate und die wohlbekannten Gesichter der libanesischen Politik seit Ende des Bürgerkrieges 1990 gegenseitig die Verantwortung zu, verharren in dieser selbstgerechten Passivität und werden nur dann aktiv, wenn es darum geht, jegliche Versuche von Protest und Opposition zu unterdrücken.

Diese Tragik der letzten Monate hat ihren traurigen und auch unerwarteten Höhepunkt in der Explosion Anfang August gefunden. Sie ist Ausdruck libanesischer Politik sowie des politischen Systems seit Ende des libanesischen Bürgerkrieges 1990, der – ähnlich der Reaktion der libanesischen Politiker*innen nach der Explosion – ebenfalls in einer Mischung aus Nicht-Aufklärung, Schuldzuweisungen, forciertem Vergessen und einem Auswechseln der alten Gesichter beendet wurde.

Es war ein zentraler Satz der libanesischen Protestbewegung des 17. Oktobers letzten Jahres, dass es ihre Bewegung sei, die den libanesischen Bürgerkrieg durch ihre konfessions- und klassenübergreifende Einheit, ihre radikale Ablehnung des alten Systems und ihre zahlenmäßige Stärke zu einem abschließenden Ende geführt hat. Und es war die Explosion des 4. August, die mit besonderer Härte gezeigt hat, dass das System, das mehr als alles andere den Ethos dieses Bürgerkrieges und seiner Post-Ära vertritt, trotz allem weiterhin die Regeln setzt.

Die Protestbewegung als einzige Hoffnung

Und dennoch – etwas ist zu Ende gegangen, sowohl am 17. Oktober und in den Monaten danach als auch nun erneut seit dem 4. August. Nach dem ersten Schock und dem schrittweisen Verstehen dessen, was an diesem Tag passiert ist, stauen sich auf den Straßen Beiruts Trauer und Wut auf, seit dem 8. August kommt es täglich zu Protesten, in denen zu Rechenschaft und Verantwortlichkeit der jeweiligen Politiker*innen aufgerufen wird. Die Sicherheitskräfte reagieren mit unverhältnismäßiger Gewalt, unverhältnismäßig vor allem angesichts des Ausmaßes an Verlust und Zerstörung, den die Explosion zurückgelassen hat. Die Protestbewegung, die »thawra«, ist nach Monaten relativen Stillstands zurück, in Schock, Rage und Trauer, und mit dem erklärten Ziel, dass es dieses Mal zu einem klaren Wandel und zu einem Umsturz kommen muss.

Dennoch und trotz dieses klaren Ziels, scheint der Weg zu diesem ersehnten Wandel ein weiterhin langer, beschwerlicher und schwer definierbarer. Die Schwäche der libanesischen Protestbewegung im Hinblick auf politische Programmatik und politische Organisation wird von vielen Beobachter*innen und auch von Menschen in der Bewegung selbst immer wieder kritisiert. Zukunftsweisende Fragen von politisch-ideologischer Verortung innerhalb und außerhalb des Libanon, längerfristigen politischen Visionen und möglichen Organisationsformen sind hier ebenso ungeklärt wie momentane Forderungen im Hinblick auf die politischen Schritte der nächsten Monate, sei es, was die Frage nach möglichen Neuwahlen angeht oder die Frage nach einer internationalen oder nationalen Untersuchung der Explosion vom 4. August. Diese Schwäche ist angesichts der politischen und wirtschaftlichen Umstände, in denen die Bewegung agiert, durchaus verständlich und von Teilen der Protestbewegung auch gewollt.

Und dennoch: Die momentane Protestbewegung ist die einzige Hoffnung, die der Libanon in der jetzigen Situation hat und die einzige Vorstellung von politischem Wandel, die in der momentanen katastrophalen Lage des Landes ernst genommen werden sollte.

Miriam Younes

Miriam Younes ist Politikwissenschaftlerin und Soziologin mit einem Schwerpunkt auf Politik und Gesellschaft des Libanons, des Iraks und Syriens. Sie leitet seit 2017 das Auslandsbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Beirut.