analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 672 | International

Die Kunst, sich nicht einsperren zu lassen

Nach mehr als 25 Jahren auf der Flucht ist Bernd Heidbreder in Venezuela gestorben. Thomas Walter über seinen Freund und Mitstreiter, staatlichen Verfolgungseifer und das Leben im Exil

Interview: Kristian Stemmler

Bernd Heidreder mit einem Bauer-Jogurt
Bernd Heidbreder Mitte der 1980er Jahre und noch in Deutschland, stärkt sich für den revolutionären Kampf. Dass er sich einige Zeit später auf eine jahrzehntelange Flucht vor den deutschen Strafverfolgungsbehörden begeben musste, ahnte er damals vermutlich noch nicht. Foto: Privat

Eine traurige Nachricht kam Ende Mai aus Venezuela. Bernd Heidbreder erlag im Alter von 60 Jahren in seinem Exil in den Anden einer Krebserkrankung. Er war Teil der Gruppe K.O.M.I.T.E.E., die 1995 versucht hatte, in Berlin-Grünau ein im Ausbau befindliches Abschiebegefängnis zu sprengen. Mit seinen beiden Mitstreitern konnte er flüchten, die deutschen Behörden jagten die drei mit obsessivem Aufwand. Sein Freund und Genosse Thomas Walter beantwortete aus Venezuela Fragen zu Bernd Heidbreder, seinem politischen Wirken, dem gemeinsamen Leben im Exil und zum Thema Militanz.

Vor 26 Jahren bist du mit Bernd Heidbreder und Peter Krauth aus der BRD geflohen. Ihr drei habt seitdem im Exil gelebt, seit einigen Jahren am Rande der venezolanischen Stadt Merida in den Anden. Bernd ist am 28. Mai gestorben. Kannst du etwas zu den Umständen seines Todes sagen?

Thomas Walter: Bernd kam schon seit einiger Zeit nicht besonders gut daher, hatte Sehstörungen, Schwindel, war dünner geworden. Vor etwa drei Wochen verschlimmerte sich sein Zustand sehr plötzlich, innerhalb von nur einer Woche war er nicht mehr in der Lage zu laufen, ohne dass wir auch nur einen Schimmer hatten, was das sein könnte. Schließlich mussten wir ihn hospitalisieren, erst im öffentlichen Krankenhaus, wo sie ihn gar da behalten wollten, dann in einer Privatklinik. Da kam dann der Verdacht auf einen Hirntumor auf, der sich bestätigte.

Er wurde operiert, mit einer schlechten Prognose, war danach noch zwei Tage bei Bewusstsein, bis er ins Koma fiel und einen Tag später starb. Das Ganze ging in solch einer atemberaubenden Geschwindigkeit vor sich, dass wir gar nicht hinterher kamen. Weil wir uns so unsicher waren, ob wir Bernd unter den chaotischen Bedingungen hier auch wirklich alle notwendigen medizinischen Möglichkeiten zur Verfügung stellen können würden, haben Freund*innen in Deutschland parallel immer bei Ärzt*innen dort rückgecheckt, ob hier vor Ort tatsächlich alle nötigen Maßnahmen getroffen worden sind. Aber es war nichts mehr zu machen.

Wann hast du ihn zuletzt gesehen und gesprochen?

Am 25. Mai nachmittags habe ich mich zuletzt mit ihm unterhalten. Er war sehr frustriert, konsterniert, plötzlich ein Pflegefall geworden zu sein. Er hatte Lust auf gar nichts. Ich fand das so traurig und habe ihn deshalb gefragt, ob es denn nicht irgendwas gäbe, auf was er richtig Lust habe, egal wie unrealistisch es auch sei. Er hat lange nachgedacht, wirklich ein paar Minuten, und dann sagte er: »Ja, Schokoladeneis.« Daraufhin kam eine Pflegerin für erste Gymnastikübungen. Ich bin so lange raus und habe überlegt, wie ich an ein Schokoladeneis kommen könnte, und nach ein paar Minuten wurde ich gerufen: Herz- und Atemstillstand! Sie konnten ihn nochmal wiederbeleben, aber aus dem Koma ist er nicht mehr aufgewacht. Irgendwie fand ich das tröstlich mit dem Schokoladeneis, denn es ist auch mein Lieblingseis, und von jetzt an werde ich nie wieder eines essen, ohne an Bernd zu denken.

Thomas Walter

war wie Bernd Heidbreder Teil der Gruppe K.O.M.I.T.E.E. Gemeinsam mit ihm und Peter Krauth floh er Mitte der 1990er Jahre vor den deutschen Strafverfolgungsbehörden, die alle drei zu »Terroristen« erklärt hatten. Im Exil in Venezuela hat er ein neues Zuhause gefunden. Bis letztes Jahr, hat er dieses mit seiner Hündin Perla geteilt. Thomas blogt unter thomasrobertwalter.de.

Bernd, Peter und dich verbindet die Geschichte der gemeinsamen Flucht nach dem gescheiterten Anschlag der militanten Gruppe KO.M.I.T.E.E. auf ein ehemaliges DDR-Frauengefängnis in Berlin-Grünau, das zum Abschiebeknast umgebaut werden sollte. Was bedeutet Bernds früher Tod für euch?

Das kann ich dir noch gar nicht sagen, dafür ist das noch viel zu frisch. Irgendwie scheint ein Abschnitt des Lebens zu Ende zu sein, denn unsere Flucht war ja eine Geschichte von drei Freunden, und auch wenn man sich im Laufe der Jahre unterschiedlich entwickelt hat, waren das ja Jahrzehnte, wo man zusammen gehalten hat wie Pech und Schwefel. Also wenn mich jemand fragen würde: »Was hast du geleistet in deinem Leben?«, würde ich sagen: Ich habe mich von den Bullen nicht einsperren lassen, das ist mein Lebenswerk, frei zu bleiben trotz dieser scheinbar übermächtigen Maschinerie, die uns jagt. Da bin ich stolz drauf, und das habe ich nicht alleine gemacht, sondern zu dritt. Und von den dreien gibt es jetzt Einen nicht mehr, das ist ein Loch auch im eigenen Leben.

Unsere Flucht war eine Geschichte von drei Freunden, und auch wenn man sich im Laufe der Jahre unterschiedlich entwickelt hat, waren das Jahrzehnte, wo man zusammen gehalten hat wie Pech und Schwefel.

Was war Bernd für ein Mensch?

Bernd war ein ganz sensibles Wesen. Man hatte immer ein bisschen das Gefühl, man müsse ihn beschützen. Er war ja drei Jahre lang bei der Polizei, da hatte ihn die Familie rein gedrängt. Er hat da ersatzweise seinen Wehrdienst geleistet, da gab es damals so eine Modalität, und es wurde von ihm erwartet, dass er dabei bleibt und Karriere macht. Aber Bernd hat das überhaupt nicht ausgehalten, diese ganze Brutalität und den Zwang zur Unterwerfung, die dort herrschen, und hat es dann so hingedreht, dass er aus Gesundheitsgründen ausscheiden musste und noch eine schöne Abfindung bekam.

Danach hat er eine Weile lang eine Kneipe gemacht, bisschen studiert, Musik gemacht, und irgendwie war ihm klar, dass er sich nicht einfach in die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse integrieren konnte, dass ihm zu vieles falsch erschien und er nicht Teil davon sein wollte. Bei den Autonomen hat er eine kulturelle Heimat für diese Sehnsucht gefunden. Das hat ihm gut gefallen, eine feste Gemeinschaft zu haben und einen Sinn im Leben, sich aktiv gegen die gesellschaftlichen Missstände zu engagieren. Er war sehr moralisch, also das Gegenteil von jemandem, der nach außen einen Anspruch vertritt, aber zu Hause ganz was anderes lebt.

Bernd war es immer ganz wichtig, die politischen Postulate auch privat umzusetzen. Er hat aus Prinzip immer ganz bescheiden gelebt, bis zum Schluss wollte er keinesfalls einen besseren Lebensstandard haben als seine Nachbar*innen im Barrio, auch wenn er sich das dank seiner Freundschaften in Deutschland hätte leisten können. Die meiste Zeit hat er als Drucker gearbeitet. Bernd war Mitglied in der sozialistischen Einheitspartei PSUV hier in Venezuela, er hat sich da bis zum Ende engagiert auf der Ebene von Basisorganisation im Stadtteil, obwohl er von der Entwicklung der Partei wie wir alle enttäuscht war. Er hat das trotzdem weiter gemacht, vielleicht auch weil ihn, im Unterschied zu mir etwa, die »großen« Lösungen gar nicht so sehr interessiert haben. Er wollte einfach das tun, was er als korrekt empfand, nicht um irgend was dafür zu bekommen oder toll dazustehen, sondern einfach, weil es für ihn stimmte. Wolf Dieter Vogel hat das in seinem Nachruf sehr schön auf den Punkt gebracht: das Richtige tun, ohne sich damit wichtig zu machen. Besser kann man sein Wesen nicht zusammenfassen.

Thomas Walter, Bernd Heidbreder und Peter Krauth im April 2019 in ihrem venezolanischen Exil. Bild: Sobo Swobodnik

Wie fing das alles an mit euch dreien?

Peter kommt zwar aus dem gleichen Dorf wie ich, aber wir haben uns erst in Berlin kennengelernt, als ich eine Meldeadresse brauchte, um mich dem Wehrdienst zu entziehen. Damals war bei ihm schätzungsweise eine halbe Kompanie polizeilich gemeldet, lauter potenzielle Soldaten aus Westdeutschland, die keine Lust aufs Strammstehen hatten. Weil wir auch beide Schreiner sind, haben wir bald mehr zusammen gemacht. Bernd hat so um 1986 herum eine Bleibe gesucht, und er zog bei mir im Haus ein. Wir haben mit anderen zusammen ein Wohnprojekt gemacht und fast alles gemeinsam organisiert –  Geld, Essen, Politik. Wir haben zum Beispiel das Kind einer Mitbewohnerin gemeinsam mitaufgezogen, jeder war für einen Tag in der Woche zuständig. Unsere Auftritte beim Elternabend waren stets berüchtigt, wenn statt einem oder zwei gleich fünf Erziehungsberechtigte erschienen. Später ging das Wohnprojekt ein, aber Bernd und ich sind zusammen geblieben. Alle drei waren wir Teil der Autonomen. Wir waren politisch aktiv zu allen möglichen Themen, haben Demos mitorganisiert, Knastarbeit gemacht, uns gegen Nazis gewehrt et cetera. Die autonome Bewegung war ein ausgeprägt integraler Lebensentwurf, kulturell, sozial und politisch, da wurde nicht viel getrennt zwischen privat und öffentlich.

Bernd war sehr moralisch, also das Gegenteil von jemandem, der nach außen einen Anspruch vertritt, aber zu Hause ganz was anderes lebt.

Nach dem gescheiterten Anschlag von Berlin-Grünau musstet ihr untertauchen. Wo hat es dich in den Jahren danach hingeführt?

Das war eine lange Reise kreuz und quer durch den Kontinent, oft jeder für sich, zeitweise mal zwei zusammen. Immer wieder gab es irgendwo Probleme, und man musste weiter, oder die Beteiligung an einem politischen oder sozialen Projekt war an einem toten Punkt angelangt, und man wollte was Neues probieren. Nach Venezuela sind wir gekommen, weil sich das Land damals im Aufbruch befand, es gab eine tolle Dynamik, wir wollten dabei sein, und natürlich versprachen wir uns auch einen gewissen Schutz davon, in einem »sozialistischen« Land zu leben. Aber das zentrale Motiv war, dass wir nach vielen Jahren, wo jeder für sich selbst dahingelebt hatte, wieder zusammenkommen wollten. Wir wussten, was wir aneinander haben, trotz aller Unterschiede, und wollten uns gegenseitig in der Nähe haben. So eine Geschichte wie unsere verbindet einfach. Und Venezuela bot damals die besten Voraussetzungen dafür.

Ihr musstet unter falschem Namen, mit einer falschen Identität und Biografie leben. Dass Linke aus der BRD als politisch Verfolgte im Exil leben müssen, ist ja zum Glück sehr selten geworden. Wie lief das?

Für unseren Lebensunterhalt mussten wir selbst aufkommen, und das hieß, dass wir einen Batzen »Überbrückungsgeld« brauchten, bis wir auf eigenen Füßen standen. Zum Glück gab es damals genug Leute, die bereit waren zu spenden, das war bei uns nie ein Problem. Und nach einer Weile waren wir ja auch alle selbstständig, auch wenn es immer mal wieder Situationen gab, wo das selbst verdiente Geld nicht gereicht hat. Ich hatte mich dafür entschieden, zu einer linken Organisation in Lateinamerika zu gehen, wo ich auch weiterhin politisch tätig sein könnte. Das war mir persönlich sehr wichtig, weiterhin aktiv zu sein und nicht einfach nur zu überleben. Ich habe überall mitgemacht, meine Kenntnisse und Erfahrungen eingebracht und versucht, von den Leuten zu lernen. Die waren auch alle sehr lieb und haben fast alles mit mir geteilt. Trotzdem bin ich immer etwas fremd geblieben. Im Geist war ich oft in meinem alten Zuhause, und das war bestimmt nicht förderlich dafür, vollständig anzukommen. Ich konnte das schlecht vergessen, hatte immer irres Heimweh.

Ihr hattet Unterstützer*innen, die euch in dieser schwierigen Zeit geholfen haben. In einem Radiofeature hast du gesagt, du hättest da mit »den Besten« zu tun gehabt. Wie meintest du das?

In der Regel gibt es ja immer jemanden, der dich empfängt, wenn du als Gesuchter irgendwo hin kommst. Du gehst schließlich nicht einfach so irgendwo hin, wo du niemanden kennst, sondern wirst meist jemandem empfohlen. Zumindest bei uns war das fast immer so. Das ist ja auch gut für deine »Legende«, wenn es vor Ort jemanden gibt, der oder die für dich bürgt. Das macht es viel einfacher, irgendwo rein zu kommen. Mit den »Besten« meinte ich, dass in der Regel Leute gefragt wurden, ob sie uns helfen können, die selbst eine lange, linke Geschichte haben, denn wenn jemand nach Jahrzehnten immer noch die gleichen Ideale vertritt, kann man sich ziemlich sicher sein, dass sie oder er auch heute noch solidarisch ist. So haben wir wirklich tolle Menschen kennengelernt, die oft eine unglaublich kämpferische Geschichte hatten. Das hat uns ein Bild davon gegeben, wie viele Leute es eigentlich gibt, die was anderes wollen als die aktuelle, kapitalistische Gesellschaftsordnung. Das vergisst man ja leicht, wenn man ständig von den Medien bombardiert wird, wie sinnlos es doch sei, sich etwas anderes zu erträumen als Eigennutz und Konsum.

Was die langjährigen Freund*innen und Mitstreiter*innen in Deutschland angeht, ist die praktische Unterstützung über die Jahre hinweg natürlich immer weniger geworden, weil wir unabhängiger wurden. Schriftlich haben wir aber immer Kontakt gehalten, wir hatten uns dafür ein absolut »wasserdichtes« Kommunikationssystem geschaffen. Und als Bernd 2014 verhaftet wurde und für etwa zwei Jahre im Gefängnis war, da waren die Genoss*innen auch so gut wie alle gleich wieder zur Stelle, das war großartig. Es ist schon was besonderes, wie diese Leute all die Jahre bei der Stange geblieben sind, da hatten wir wirklich ein großes Glück!

In Venezuela hatte sich Bernd nicht nur ein neues Zuhause aufgebaut, er hat auch seinen politischen Weg fortgesetzt und sich in der Sozialistischen Partei und in Basisorganisationen engagiert. Foto: Privat

Ihr seid von den deutschen Behörden zu »Terroristen« erklärt und um die halbe Welt gejagt worden. Verwandte und Freunde wurden observiert, Wohnungen und Redaktionen durchsucht. In der ZDF-Sendung »Aktenzeichen xy… ungelöst« wurde nach euch gefahndet. Das Bundeskriminalamt schickte nach einem vagen Hinweis zwei Zielfahnder nach Ägypten. Wie erklärst du dir diesen Aufwand?

Ich habe das eigentlich nie so richtig nachvollziehen können. Ich nehme an, dass sie sich anfangs ziemlich sicher waren, dass sie uns bald haben würden, denn schließlich waren wir keine Profis mit irgendeiner hochkarätigen Organisation dahinter, sondern eher so ein paar lebenslustige Haurucks aus der Szene. Da haben sie sich ja selbst noch drüber lustig gemacht, was wir für Pfosten seien, und haben die für unseren Fall eingerichtete Sonderkommission »Osterei« genannt. Ich könnte mir vorstellen, dass es sie geärgert hat, dass sie uns nach ein paar Jahren immer noch nicht gefunden hatten und sie sich da irgendwie in die Sache verbissen  haben. Vielleicht ist das dann zum Selbstläufer geworden.
Und schließlich darf man auch nicht vergessen, dass wir damals so was wie »die letzten Mohikaner« waren. Die revolutionäre Linke hatte in diesen Jahren nach dem Mauerfall ihrer Militanz eher abgeschworen,  und man darf getrost annehmen, dass die Bullen einfach ihre Budgets erhalten wollten, indem sie weiterhin eine Gefährdung von links konstruierten, die es so, leider, ja gar nicht mehr gab.

Die Militanzfrage wird aber weiter diskutiert. Der US-Theoretiker Joshua Clover prognostizierte 2016 eine Zeit der aufflammenden Riots, der schwedische Humanökologe Andreas Malm stellte das Dogma der Gewaltlosigkeit im Kampf für die Rettung des Klimas infrage. Wie siehst du das Thema heute?

Die Gewaltfrage ist der ewige Stein des ideologischen Anstoßes der Linken, denn eigentlich wollen wir eine friedliche Gesellschaft. Da wir aber mit Gewalt daran gehindert werden, das umzusetzen, wirft das die Frage nach der Verteidigung auf, also der Gegengewalt. Diese theoretische Frage wurde eigentlich schon vor vielen Jahren beantwortet, nämlich mit der Formel: Wir wenden so wenig Gewalt an wie möglich, um unsere Selbstbestimmung durchzusetzen, aber wir lassen uns unsere Kampfmittel nicht vom Gegner vorschreiben. Wo beispielsweise ein Ziel durch Sitzblockaden erreicht werden kann, weil die Bewegung riesig ist und der Gegner sich im Legitimationskonflikt befindet, wäre es falsch, zu militanten Mitteln zu greifen. Wichtig ist, dass die Entscheidung, welche Methoden der jeweils aktuellen Situation angemessen sind, nicht Einzelnen überlassen werden darf, sondern so weit wie möglich Konsens in der Bewegung sein soll.

Zurück zu eurem Leben im Exil. Bernd hat 2016 in Venezuela den Flüchtlingsstatus beantragt, Peter und du 2017. Das hat euch ermöglicht, wieder legal und unter richtigem Namen in Mérida zu leben. Wie war das für dich?

Das war eine Erleichterung, die ich kaum beschreiben kann. Peter und ich hatten lange gezögert, den Schritt zu tun und uns der Flüchtlingsbehörde anzuvertrauen. Als Illegale waren wir ja halbwegs sicher, und hatten unser Schicksal weitgehend selbst in der Hand. Zwar hatte Monate nach Bernds Verhaftung 2014 eine Gruppe Fahnder, wahrscheinlich mit deutscher Unterstützung, in Mérida nach mir gesucht, aber dank unserer sozialen Einbettung wurden wir schnell gewarnt, und ich konnte mich absetzen. Wenn wir aber unsere wahre Identität preisgeben würden, wären wir der staatlichen Willkür ausgeliefert. Nachdem Bernd gerade zwei Jahre ohne rechtliche Grundlage im Knast verbracht hatte, war das Misstrauen groß. Wirklich passiert in Bezug auf unseren Aufenthaltsstatus ist seitdem nichts, aber die emotionale Befreiung, die das auslöste, war immens. Endlich konnte ich wieder Kontakt mit all den Menschen aufnehmen, die ich so lange vermisst hatte.

Wie lebst du heute in Mérida?

Sehr gut eigentlich. Ich lebe auf dem Land in netter Umgebung, habe alles, was ich brauche, habe Leute, die mich mögen, bin gesund. Ich weiß nicht, ob man vom Leben viel mehr verlangen soll. Von der desolaten Situation des Landes sehe ich durchaus auch die positiven Aspekte, nämlich die einer unbeabsichtigten Décroissance (politisches Konzept abnehmenden Wachstums: Anm. ak). Als notorischer Radfahrer zum Beispiel genieße ich durchaus die autofreien Straßen infolge der Benzinknappheit. In meinen ersten Jahren in Mérida waren Fahrräder so selten, dass man sich euphorisch grüßte, wenn einem eine Radlerkolleg*in entgegenkam. Heute wäre das peinlich und man käme aus dem Winken nicht mehr heraus, denn alle haben ihre Drahtesel aus dem Keller geholt und wieder gangbar gemacht. Das notorische Heimweh ist verflogen. Meine Beziehungen zu Menschen in Deutschland sind zwar weitgehend digital, aber das tut deren Qualität keinen wesentlichen Abbruch. Und mal ganz im Ernst: Während der Corona-Pandemie hätte ich auch wirklich nicht in Berlin leben wollen. Bei uns hier auf der Scholle haben wir davon eher wenig mitbekommen.

In der BRD würden die Verhaftung und ein Prozess drohen. Die Vorwürfe sind zwar fast alle verjährt. Aber die Bundesanwaltschaft wendet auf euch den Paragrafen 30 des Strafgesetzbuches an, der die Verabredung zum Verbrechen unter Strafe stellt. Da ist die Verjährungsfrist 40 Jahre, läuft für euch 2035 ab. Ein Deal mit der Bundesanwaltschaft scheiterte. Warum?

Die Bundesanwaltschaft lehnte 2018 eine neue Verhandlung kategorisch ab, das kam von ganz oben, und den Grund kann ich dir nicht sagen. Davor hatte es im Laufe der Jahre schon zweimal Verhandlungen gegeben, die aber zu keinem Ergebnis kamen.

Du kommst aus dem baden-württembergischen Sinzheim nahe Baden-Baden. Willst du dorthin zurück?

Wenn mein Haftbefehl aufgehoben würde, stände ich mit Sicherheit zwei Tage später dort vor der Tür. Meine Eltern leben noch, und ich würde versuchen, so gut wie möglich etwas von dem Leid wettzumachen, das sie meinetwegen durchgemacht haben. Aber ob ich dort dauerhaft leben wollte, das weiß ich wirklich nicht. Ich denke eher, dass ich nach so vielen Jahren lateinamerikanischer Kulturdurchdringung nicht mehr recht mit einem Leben in Deutschland kompatibel bin. Und es gibt ja hier trotz allem Chaos auch durchaus einige sehr sympathische Aspekte. Das müsste ich ausprobieren, das könnte ich jetzt gar nicht sagen.

Kristian Stemmler

ist freier Journalist in Buchholz in der Nordheide.