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Aufstand der Vielen

Trotz massiver Repression bringen die Protestierenden in Kolumbien Staat und Militär in Bedrängnis

Von Alke Jenss

Demonstrant*innen in Medellín am 5. Mai 2021. Foto: Oxi.Ap / Flickr, CC BY 2.0

Der Hubschrauber fliegt tief. Es sind Schüsse zu hören. Im Video schreit jemand, »das ist hier wie im Kriegsgebiet! Hilfe!«. Im Ort Buga in Valle del Cauca im Westen Kolumbiens soll Polizei aus dem Hubschrauber auf Demonstrierende geschossen haben. Der Bürgermeister des Ortes hatte die Anti-Riot-Polizeieinheiten des ESMAD (Escuadrón Móvil Antidisturbios) darum gebeten, sich aus den Wohnvierteln Bugas zurückzuziehen. Der Weg sei der Dialog, schrieb er auf Twitter. Vergebens.

Auslöser der Proteste: eine inzwischen zurückgenommene Steuerreform, die vor allem Menschen mit niedrigen Einkommen belastet hätte – geplant und verkündet mitten in der Corona-Pandemie, in der ohnehin viele Menschen um ihr tägliches Überleben kämpfen müssen.

Seitdem wiederholen sich die Protest-Szenen in den verschiedensten Städten Kolumbiens, ebenso wie die Reaktionen der Polizei. Die Polizeibeamt*innen gehen extrem gewaltsam vor, häufig werden sie unterstützt von in Zivil gekleideten Personen. Zahlreiche Videos belegen außerdem Schüsse der Polizei und des in vielen Städten eingesetzten Militärs auf Demonstrierende. Armeebefehlshaber Eduardo Zapateiro sprach von der »Rückeroberung der Städte«. Polizist*innen machen regelrecht Jagd auf Jugendliche, die sich abends noch auf der Straße aufhalten, etwa in Cali. Zivile schossen auf indigene Protestierende der Minga. Zeitweise wurden nachgewiesenermaßen in Stadtteilen Strom und Internet abgeschaltet, offenbar um die Kommunikation zu erschweren.

Die Bilanz der letzten Tage ist erschreckend: Von 46 Toten und über 800 willkürlichen Festnahmen geht die Menschenrechtsorganisation Temblores inzwischen aus. Selbst der Ombudsmann, die zentrale staatliche Stelle für Menschenrechtsfragen, spricht inzwischen von 89 Verschwundenen, also durch staatliche Kräfte Verschleppte. Die sogenannte Sucheinheit (Unidad de Búsqueda), ein Verbund von Organisationen, nennt um die 600 Verschwundene.

Riesige Ungleichheit

Doch auch der Protest ist breiter als sonst und findet nicht nur in den großen Städten wie Bogotá oder Medellín statt. Der Streik ist an kleineren Orten angekommen, in denen bisher kaum Demonstrationen stattfanden und in denen es kaum eine politisch aktive, regierungskritische Öffentlichkeit zu geben schien. Es beteiligen sich viele gesellschaftliche Gruppen, die sich bisher häufig schwergetan haben, sich untereinander zu koordinieren, und die sehr unterschiedliche Lebenswelten vertreten – arbeitslose Stadtbevölkerung, Jugendliche ohne Perspektive, ältere Pandemiebetroffene, indigene Organisationen, Teile derjenigen, die sich als Mittelschichten verstehen.

Eine Vielzahl von Organisationen hatte gemeinsam zum Protest aufgerufen. Seit dem 28. April gehen die Menschen jeden Tag auf die Straße. Mit Straßenblockaden zwischen Cali und Bogotá beteiligten sich zeitweise Lastwagenfahrer und bäuerliche Initiativen. Längst geht es um viel mehr als die gekippte Steuerreform der Regierung.

Es beteiligen sich viele gesellschaftliche Gruppen, die sehr unterschiedliche Lebenswelten vertreten.

Für viele hat die Steuerreform – in der präsidentiellen Erklärung hieß die Initiative »Gesetz für Solidarität und Nachhaltigkeit« – nur das Fass zum Überlaufen gebracht. Kolumbien ist eines der ungleichsten Länder der Welt. Die Covid-19-Pandemie brachte nicht nur das öffentliche Leben zum Erliegen, als Kolumbien 2020 einen der schärfsten Lockdowns mit strengen Ausgangsbeschränkungen hatte. Sie hat die offiziellen Arbeitslosigkeitsstatistiken weiter in die Höhe getrieben, auf über 14 Prozent. Vor allem die informell Tätigen, die kaum oder gar keine Rücklagen bilden können, sind von der Pandemie in schwere Notlagen getrieben worden. Häufig waren 2020 rote Fahnen an Häusern zu sehen, die anzeigen sollten, dass die Bewohner*innen Hunger litten. Die von der Regierung ausgegebenen Nothilfezahlungen von umgerechnet etwa 35 Euro im Monat waren für die, die sie bekommen haben, kaum mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Die Reform hätte die Mehrwertsteuer auf weitere Waren und Dienstleistungen ausgeweitet und mit der Absenkung der Steuerfreibeträge für geringe Einkommen diejenigen weiter geschwächt, die wirtschaftlich ohnehin am meisten belastet sind. Die sogenannten »Mittelschichten«, deren Einkommen häufig sehr gering sind, hätten einen Großteil der Last getragen. Viele von ihnen sind nun auf der Straße. Auch einige Wirtschaftssektoren sahen sich benachteiligt. Dagegen tragen der Finanzsektor, der Bergbau und der Ölsektor, Kolumbiens extraktive Zugpferde, kaum zum Steueraufkommen bei.

Finanzminister Alberto Carrasquilla ist inzwischen zurückgetreten; die Steuerreform wurde aus der Plenardebatte zurückgezogen. Der eigentliche Konflikt ist damit jedoch nicht entschärft: Kolumbien hat in den letzten 20 Jahren praktisch durchgehend auf Anreize für Direktinvestitionen gesetzt und immer wieder neue Steuerbefreiungen für Unternehmen geschaffen. Auch 2019 gab es bereits Proteste gegen eine Steuerreform. »Ich will klar sagen, mit diesem Gesetz machen wir nicht den Reichsten Geschenke. Diese Reduzierung der Gewinnsteuern ist für alle Unternehmer, kleine, mittlere und große«, so warb Carrasquilla damals für sein Vorhaben, das aber vor allem zu geringeren Steuereinnahmen führte. Die Pandemie tat ein Übriges: So sackten zum Beispiel die Staatseinnahmen über die Mehrwertsteuer ab, weil die Menschen viel weniger konsumierten. Die jetzige Reform hätte diese Ausfälle nur teilweise ausgeglichen, die großen Unternehmen aber weiter unangetastet gelassen. Zudem hätte sie wenig an der Verteilung staatlicher Gelder geändert: Der kolumbianische Verteidigungs- und Sicherheitshaushalt ist weiterhin einer der größten in Lateinamerika, auch wenn 2020 ein Teil in die Pandemiebekämpfung floss.

Die Macht der Militärs

Auch gegen eine mitten in der Pandemie geplante Gesundheitsreform, die die Versorgung der ärmeren Bevölkerung weiter verschlechtert hätte, sowie die erneut beschlossene Glyphosatbesprühung von Kokafeldern und die Weigerung der Regierung von Präsident Iván Duque, die Friedensvereinbarungen von 2016 umzusetzen, protestieren die Streikenden. »Wir kämpfen für ein anderes Land«, verkündete der Indigene Rat des Cauca (CRIC), einer der Regionen des Landes.

Erbitterte Gegner des Protests sind neben der aktuellen Regierung auch die Sektoren um Ex-Präsident Álvaro Uribe, der auf Twitter Militär und Polizei zur »Selbstverteidigung« aufrief. Twitter löschte den Post später wegen Gewaltverherrlichung. Uribe legte nach und forderte die Stärkung des Militärs, das durch seine »Gleichsetzung mit Terroristen« geschwächt sei – eine Anspielung auf die im Friedensvertrag mit der FARC-Guerilla vereinbarte Transitionsjustiz, vor der sich auch staatliche Kräfte verantworten müssen.

Vertreter*innen des Streiks forderten die Rücknahme der Gesundheitsreform und eine großangelegte Impfkampagne, ein ernstzunehmendes bedingungsloses Grundeinkommen und eine ganz andere Aufstellung der staatlichen Finanzen.

Präsident Duque, politisch deutlich geschwächt, rief die Protestierenden zu Verhandlungen auf. Allerdings soll ausgerechnet der Hochkomissar für den Frieden, Miguel Ceballos, nun die Verhandlungen mit den Protestierenden leiten.  Dieser war in der Vergangenheit vor allem mit Unkenntnis des internationalen Menschenrechtssystems und seiner Ablehnung des Friedensabkommens aufgefallen. Der Erfolg von Gesprächen bleibt also fraglich. Vertreter*innen des Streiks sprachen am 6. Mai im Kongress und forderten die Rücknahme der Gesundheitsreform und eine großangelegte Impfkampagne, ein ernstzunehmendes bedingungsloses Grundeinkommen und eine ganz andere Aufstellung der staatlichen Finanzen. Einen ersten Erfolg gab es am 11. Mai: Präsident Duque verkündete, die bisher gestaffelten Gebühren an öffentlichen Universitäten für die schwächeren Einkommensgruppen auszusetzen, wenn auch die konkrete Umsetzung noch fraglich ist.

Den Erfolg nicht unterschätzen

Die konkreten Erfolge der Proteste scheinen bislang klein; in einem Klima, das in den letzten Jahren von der Normalisierung von Gewalt geprägt war, sind sie dennoch nicht zu unterschätzen. Ein Polizeimajor wurde inzwischen festgenommen – wegen des Mordes an dem  24-jährigen Demonstrierenden Brayan Niño am 2. Mai. Die Polizei musste öffentlich zugeben, dass ein Lastwagen in Cali, aus dem Bewaffnete in Zivil auf Demonstrierende geschossen hatten, in ihrem Besitz ist, nachdem Regierungskritiker*innen die Registrierungsnummern herausgefunden hatten.

Die Situation ist auch deshalb pikant für die Regierenden, weil Kolumbien, in den letzten Jahrzehnten Musterschüler der makroökonomischen Stabilitätsdoktrin inklusive verfassungsmäßig festgelegter Schuldenbremse, aufgrund der Pandemie auf den internationalen Kapitalmärkten an Stellung verliert. Fitch, Standard & Poors und andere Ratingagenturen stuften kolumbianische Staatsbonds auf die Kategorie BBB- mit schlechten Prognosen herunter, also nur noch knapp über dem Schrottstatus; der Peso wurde dem US-Dollar gegenüber stark entwertet, und zum ersten Mal seit Jahren stehen die Zahlungsfähigkeit und Schuldenemission des Landes infrage. Die Regierung Duque scheitert also selbst gemessen an ihren eigenen Ansprüchen.

Die scharf rechtsgerichtete Regierung, vor allem aber die ultrarechten uribistischen Kräfte um sie herum in und außerhalb der regierenden Partei Centro Democrático, sind entscheidend für den weiteren Verlauf. Der linksgerichtete Senator Gustavo Petro, der momentan die Umfragen für die Präsidentschaftswahlen 2022 – in genau einem Jahr – anführt, warnte inzwischen vor einem möglichen technischen Staatsstreich der ultrarechten Kräfte um Ex-Präsident Uribe und die Militärführung. Aus Angst zu verlieren, könnten sie die Wahlen aussetzen. Denn der Streik ist Ausdruck einer so grundsätzlichen Unzufriedenheit, dass ein schnelles Abebben der Proteste trotz aller Gewalt und trotz der Pandemie unwahrscheinlich ist.

Alke Jenss

forscht am Arnold-Bergstraesser-Institut Freiburg zu den Themen Autoritarismus und Austerität in der Stadt sowie transregionalen Infrastrukturprojekten in Lateinamerika. Sie hat sich besonders mit staatlicher Gewalt in Kolumbien und Mexiko beschäftigt.