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Ideologie, Gewalt und stummer Zwang

Der marxistische Theoretiker Søren Mau über ökonomische Macht und verschiedene Arten der Kapitalismuskritik

Interview: Marlon Lieber

Søren Mau hat gerade seine Dissertation über Marxens Theorie des ökonomischen Zwangs vorgelegt. Foto: privat

Leser*innen, die es bis zum vorletzten Kapitel von »Das Kapital« geschafft haben, kennen den Ausdruck des »stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse«, der Marx zufolge die Herrschaft des Kapitals auch ohne direkte Gewaltausübung garantiere. Wie der Marx-Forscher Michael Heinrich in seinem Vorwort zu Søren Maus 2021 erschienener Studie »Stummer Zwang: Eine marxistische Analyse der ökonomischen Macht im Kapitalismus« schreibt, wurde diesem Konzept jedoch bislang in der marxistischen Diskussion keine größere Aufmerksamkeit zu teil. Søren Mau sprach mit der ak darüber, was es mit der ökonomischen Macht auf sich hat.

Dein Buch versucht, die Frage zu beantworten, wie die Reproduktion der kapitalistischen Produktionsweise gewährleistet wird. Anders als viele Marxist*innen hältst du die Aussagekraft von Ideologie- oder Staatstheorien jedoch für unzureichend. Wieso?

Søren Mau: Zunächst möchte ich betonen, dass ich Gewalt und Ideologie für notwendige Formen der Macht halte, die den Kapitalismus reproduzieren. Was ich ökonomische Macht oder mit einem Marx’schen Ausdruck den »stummen Zwang« nenne, ist eine Form der Macht, die nicht auf Gewalt oder Ideologie reduziert werden kann. Wenn wir davon ausgehen, dass Macht immer auf eine dieser beiden Formen reduziert werden kann, geraten zahlreiche Herrschaftsmechanismen aus dem Blick. Bereits Marx hat diese Art der Macht analysiert, genau wie viele Marxist*innen – besonders in den letzten 50 Jahren. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass wir eine systematischere begriffliche Studie und eine stringentere Definition dieser abstrakten und unpersönlichen Form der Herrschaft benötigten.

Im Buch benutzt du den Begriff der »sozialen Ontologie«. Was ist damit gemeint und wie hängt das mit der Theorie der ökonomischen Macht zusammen?

Die Kapitel zur sozialen Ontologie sollen erklären, wie so etwas wie ökonomische Macht überhaupt möglich ist. Dieses Phänomen verrät etwas über die Natur des Menschen und die spezifische Art, wie Menschen sich zueinander und zu ihrer Umgebung in Beziehung setzen. Die Frage, die ich beantworten möchte, lautet: Was hat es mit den Menschen auf sich, das es dieser Gattung erlaubt, ihre Reproduktion mittels so etwas wie der ökonomischen Macht zu organisieren? Um dies zu beantworten, rekonstruiere ich Marxens Vorstellungen über den menschlichen Körper und die spezifische Beschaffenheit der menschlichen Körperlichkeit genau wie die Tatsache, dass Menschen Werkzeuge benutzen müssen, was Marx als sehr wichtig erachtete.

Deine Analyse der menschlichen Körperlichkeit erlaubt es dir, die proletarische Lage neu zu bestimmen, die du als »radikale Spaltung zwischen dem Leben und seinen Bedingungen« definierst.

In Marxens Schriften ist der Begriff der Proletarier*in überhaupt nicht klar. In den »Grundrissen« neigt er dazu, die proletarische Lage als vollständige Spaltung zwischen Subjekt und Objekt oder als so etwas wie ein »nacktes Leben«, ein von seinen Bedingungen getrenntes Leben, zu begreifen. Im »Kapital« wird die Proletarier*in als Person definiert, die gezwungen ist, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu können. Das ist eine vollkommen andere Definition, die nur Lohnarbeiter*innen einschließt. Es ist wichtig, den Begriff der Proletarier*in auszuweiten und darauf zu pochen, dass sich die proletarische Lage nicht durch die Tatsache der Lohnarbeit auszeichnet, sondern dadurch, vollständig von den Bedingungen des Lebens getrennt zu sein. Wir sollten es vermeiden, Klasse nur als eine Beziehung zwischen Ausbeuter*innen und Ausgebeuteten zu verstehen. Denn diese bestimmte Klassenbeziehung setzt eine viel umfassendere Form der Klassenherrschaft voraus. Diese ist eine Beziehung zwischen denen, die die Bedingungen der sozialen Reproduktion kontrollieren, und jenen, die davon ausgeschlossen sind. Mit der weiten Definition sind es nicht nur all jene, die für einen Lohn arbeiten, die der grundlegenden Form der Klassenherrschaft im Kapitalismus unterworfen sind, sondern auch alle, die außerhalb des Lohnverhältnisses arbeiten, wie etwa unbezahlte Hausarbeiter*innen und diejenigen, die überhaupt keinen Zugang zum Lohnverhältnis haben, aber dennoch der Macht des Kapitals unterworfen sind.

Die proletarische Lage zeichnet sich nicht durch die Lohnarbeit aus, sondern durch das Getrenntsein von den Bedingungen des Lebens.

Du unterscheidest außerdem zwischen vertikalen und horizontalen gesellschaftlichen Beziehungen.

Diese Unterscheidung stammt vom marxistischen Historiker Robert Brenner. Einerseits gibt es vertikale Klassenbeziehungen zwischen Ausbeuter*innen und Ausgebeuteten. Ich benutze die Begriffe ein wenig anders als Brenner, da ich auf die Beziehungen zwischen der Kapitalist*innenklasse und allen Proletarier*innen schaue, egal ob sie Lohnarbeiter*innen sind oder nicht. Die horizontalen Beziehungen sind keine Klassenbeziehungen, sondern bestehen zwischen den Mitgliedern einer Klasse. Marx analysiert diese unter den Stichwörtern Wert und Konkurrenz. Es ist nicht nur wichtig, diese Unterscheidung zu treffen, sondern auch zu verstehen, wie vertikale und horizontale Beziehungen aufeinander wirken. So sieht man, wie kapitalistische Klassenherrschaft die Voraussetzung der Beherrschung aller durch die Wertform ist und dass sich beide Formen der Macht wechselseitig verstärken. Proletarier*innen sind den Kapitalist*innen aufgrund von Formen der Macht unterworfen, die gleichzeitig alle, einschließlich der Kapitalist*innen, der Logik des Kapitals unterwerfen.

Was ist also ökonomische Macht im Kapitalismus?

Ökonomische Macht ist eine Form der Macht, die in der Fähigkeit verankert ist, die Bedingungen der sozialen Reproduktion neu zu strukturieren. Sie ist eine Form der Macht, die dadurch wirksam ist, dass die Umgebung derjenigen neu organisiert wird, die sie unterwirft. Daher verrät sie uns etwas über die spezifisch menschliche Art, sich zum Rest der Natur in Beziehungen zu setzen. Sie ist ein Beispiel der spezifisch menschlichen Fähigkeit, soziale Verhältnisse und soziale Logiken in die materielle Welt einzuschreiben. Der Kapitalismus ist eine Produktionsweise, die auf historisch einzigartige Weise diese spezifisch menschliche Fähigkeit ausnutzt. Es ist interessant, darüber nachzudenken, was es bedeuten würde, von dieser Fähigkeit in einer postkapitalistischen, einer kommunistischen Gesellschaft Gebrauch zu machen. Wir könnten uns vorstellen, dass es möglich wäre, nicht Herrschaftsverhältnisse, sondern andere soziale Beziehungen in unsere Umwelt einzuschreiben, und diese Fähigkeit nutzen, um etwas ganz anderes aufzubauen.

Søren Mau

ist Postdoktorand und lebt in Kopenhagen. Er ist Mitglied der Redaktion der Zeitschrift »Historical Materialism« und arbeitet derzeit an einem Forschungsprojekt über Marxismus und den Körper. Jüngste Publikation: Stummer Zwang: Eine marxistische Analyse der ökonomischen Macht im Kapitalismus. Aus dem Englischen von Christian Frings. Dietz, Berlin 2021. 360 Seiten, 29,90 EUR.

Als Kommunist*innen müssen wir uns also mit einer Welt auseinandersetzen, die im wahrsten Sinne des Wortes materiell nach dem Bilde des Kapitals umgestaltet wurde. Dein Buch beinhaltet keine utopischen Spekulationen. Wie könnte eine Welt jenseits der ökonomischen Macht jedoch aussehen?

Offensichtlich scheint mir, dass die Produktion, besonders die landwirtschaftliche, so weit wie möglich dezentralisiert werden müsste, da dies den Menschen lokale Autonomie ermöglicht. Wenn wir uns eine kommunistische Zukunft vorstellen, in der eine groß angelegte monokulturelle Landwirtschaft existiert, dann wäre diese sehr anfällig für Versuche, wieder eine Klassenherrschaft zu errichten. Es wäre viel einfacher für bürokratische Eliten, die Macht zu übernehmen. Gleichzeitig muss bedacht werden, dass ein dezentrales Agrarmodell eine wesentlich geringere Produktivität zur Folge hätte. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass eine postkapitalistische Gesellschaft ökonomische Aktivitäten auf Grundlage einer Vielzahl von verschiedenen Kriterien organisieren würde, während es im Kapitalismus nur ein einziges Kriterium gibt: den Profit. In diesem Beispiel müssten wir eine kollektive Entscheidung darüber treffen, ob Produktivität oder demokratische Widerstandskraft Priorität haben soll. Das Großartige an einer kommunistischen Gesellschaft wäre, dass es so viele Kriterien geben würde, wie wir die Ökonomie organisieren möchten.

Bei der Lektüre deines Buchs musste ich an William Clare Roberts Buch »Marx’s Inferno« denken, in dem Marx als radikaler Vertreter des Republikanismus und Kommunist in der Tradition Robert Owens beschrieben wird.

Was ich sehr an Roberts’ Buch schätze, ist seine Lesart der Marxschen Kritik des Kapitalismus als Kritik der Herrschaft auf Grundlage eines republikanischen Freiheitsideals. Wir können zwischen drei Arten der Kapitalismuskritik unterscheiden. Eine konzentriert sich auf Entfremdung und neigt dazu, vor allem auf die Erfahrungen von Menschen in den westlichen Teilen der Welt zu blicken. Eine zweite Art der Kritik ist im Begriff der Ausbeutung verwurzelt, konzentriert sich auf Lohnarbeit und betrachtet Lohnarbeiter*innen als primäres politisches Subjekt. Einer der Gründe, weshalb ich es für sehr überzeugend halte, die Kritik des Kapitalismus auf einer Kritik der Herrschaft zu begründen ist: Diese Form der Kritik erlaubt es, eine gemeinsame Perspektive zu artikulieren. Der Herrschaft des Kapitals unterworfen zu sein ist etwas, das wir alle gemeinsam haben – wenn auch auf unterschiedliche Weise. Politisch ist diese Form der Kritik sehr nützlich.

Du unterscheidest genau zwischen den verschiedenen Abstraktionsebenen und machst deutlich, ob du beispielsweise vom Kapital im »ideellen Durchschnitt« sprichst oder von der konkreten Rolle, die etwa Rassismus oder Sexismus in kapitalistischen Gesellschaften spielen, ohne deswegen aber antirassistische oder antisexistische Kämpfe als unbedeutend abzuwerten. Was kann die Theorie der ökonomischen Macht zur Analyse gegenwärtiger sozialer Kämpfe oder zur Formulierung kommunistischer politischer Strategien beitragen?

Es ist wichtig, politische Strategie nicht aus abstrakten Theorien abzuleiten. Gleichzeitig würde ich darauf beharren, dass die Art abstrakter Theorie, wie ich sie in meinem Buch entwickle, politisch nicht unbrauchbar ist. Begriffe und Theorien auf der Abstraktionsebene meines Buchs zu entwickeln, kann hoffentlich nützlich sein, um auf konkreterer Ebene spezifische Varianten des Kapitalismus und spezifische Situationen zu analysieren und daher dabei behilflich sein, strategisch und taktisch relevante Analysen zu erstellen.

Marlon Lieber

ist Amerikanist an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel.