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|Thema in ak 687: Alleinerziehende

Der heilige Vater

Jugendämter und Gerichte entscheiden nach antifeministischen Mustern und gefährden so gewaltbetroffene Mütter und Kinder

Von Bilke Schnibbe

Mahnwache vor einem Gebäude. Mittig ist ein Berg Geschenke und circa 20 Leute, eine Person ist als Weihnachtsmann verkleidet. Eine andere Person filmt das Geschehen. Im Vordergrund ist "Besuchsonkel?" mit Kreide auf den Fußweg geschrieben.
Der Väteraufbruch für Kinder nutzt das Bild der garstigen Mutter, die dem Mann die Kinder vorenthält. Zum Beispiel hier bei einer Mahnwache 2016 in Hamburg. Foto: publizieren-im-netz.de/Flickr, CC BY-ND 2.0

Hilfestrukturen sollten Alleinerziehenden dem Namen nach eigentlich helfen. Dass das nicht immer der Fall ist, erleben in Deutschland alleinerziehende Mütter, die nach einer Trennung mit dem Jugendamt in Kontakt kommen. Seit mehreren Jahren kritisieren feministische Aktivist*innen und alleinerziehende Mütter, dass Behörden aufgrund ideologisch gefällter Entscheidungen Kinder in Obhut nehmen und/oder dem Vater übergeben würden.

Die im Frühjahr 2022 erschienene Studie »Familienrecht in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme« des Soziologen und ehemaligen Abteilungsleiter in der Hamburger Jugendhilfe, Wolfgang Hammer, bestätigt, dass Gerichte und Jugendämter ihre Entscheidungen zum Teil auf frauenfeindliche Narrative stützen. Daraus entstehen Entscheidungsmuster der Ämter, die sich der »fachlichen und rechtlichen Begründbarkeit entziehen und Kinder gefährden«, so Hammer.

Die in der Studie identifizierten zugrunde liegenden antifeministischen Bilder sind dabei keine Neuheit, sondern alte Bekannte im Patriarchat: Mütter entfremden Kinder, Mütter wollen Geld, Mütter erfinden Gewalt und nur eine fünfzig-fünfzig Aufteilung der Kinderbetreuung sichert das Kindeswohl. Absurderweise werden deshalb in den Fällen, in denen Kinder gut in ihr Umfeld integriert sind, in Obhut des Jugendamtes genommen oder zu Umgang mit dem Vater gezwungen, weil der Mutter vorgeworfen wird, das Kind vom Vater fernzuhalten. Auf diese Weise eröffnet das Hilfesystem wiederum gewalttätigen Vätern Möglichkeiten, ihre Ex-Partnerinnen und Kinder weiter zu kontrollieren und zu gefährden.

Hinterhältige Mütter

Im Jugendamtssprech heißt es »Bindungsintoleranz«, wenn ein Elternteil den Kontakt zwischen dem Kind und dem anderen Elternteil nicht akzeptiert und behindert. Das Jugendamt ist darum bemüht, dem Elternteil mehr Rechte einzuräumen, welches den Kontakt zum anderen Elternteil am ehesten erlaubt, damit das Kind die höchsten Chancen hat, nach einer Trennung zu beiden Elternteilen Kontakt zu behalten. In einer Situation, in der keine Gewalt vorliegt und beide Eltern größtmögliches Interesse am Kindeswohl haben, ist das ein nachvollziehbares Vorgehen.

Bindungsintoleranz wird jedoch meist alleinerziehenden Müttern attestiert. Dass es dabei kaum um Kinderrechte geht, kritisieren feministische Organisationen wie die Mütterinitiative MIA. »Wenn institutionelle Gewalt gegen ein Kind als Mittel zur Durchsetzung von Elternrechten erachtet wird, ist das ein deutlicher Warnhinweis, dass hier zentrale Rechte des Kindes verletzt werden«, sagt deren Vorsitzende Sibylle Möller über eine Inobhutnahme im Landkreis Görlitz, bei der Polizist*innen einer stillenden Mutter das fünf Wochen alte Kind gewaltsam entwendet hätten, um es dem Vater zu übergeben.

Mütter, die ihre Männer nicht ans Kind lassen, dieses Bild ist nicht nur in deutschen Behörden verbreitet. Der damit verbundene Begriff des »Gatekeeping« taucht seit Jahren immer wieder in den Medien auf. Er beschreibt in etwa das folgende frauenfeindliche Stereotyp: Motivierte Väter trauen sich nicht mehr, ihren Kindern die Windeln zu wechseln oder das Klo zu putzen, weil perfektionistische Mütter sie danach sowieso nur übermäßig kritisieren würden. Frauen sind dementsprechend selbst schuld daran, dass sie mit Care- und Hausarbeit alleine dastehen. Wenn sie sich darüber beschweren, bestätigen sie das Bild der nörgelnden Perfektionistin.

Es scheint nur um das Kindeswohl zu gehen, wenn Väter etwas davon haben.

Und wie immer, wenn es um vermeintlich benachteiligte Männer geht, sind natürlich auch Deutschlands Männerrechtler nicht weit. Gatekeeping, bindungsintolerante Mütter und diskriminierte Väter sind Kernthemen deutscher Väterrechtler, die sich aktiv daran beteiligen, das Bild der manipulativen Mutter in Hilfestrukturen zu verbreiten. Wolfgang Hammer stellte in seiner Studie fest, dass Fortbildungen für Jugendämter und andere Verfahrensbeteiligte seit Jahren von Personen durchgeführt werden, die väterrechtlichen Lobbyorganisationen wie dem »Väteraufbruch für Kinder« nahestehen oder diesen angehören. Ganz oben auf der Liste der Fortbildungsthemen ist die sogenannte Eltern-Kind-Entfremdung, die bindungsintolerante Mütter betreiben würden – getreu dem antifeministischen Motto, dass Gleichstellung vor allem bedeuten muss, auf die vermeintliche Unterdrückung von Männern zu schauen.

Fragwürdige Wissenschaft

Die »Eltern-Kind-Entfremdung« oder elterliche Entfremdung geht im Kern auf den US-amerikanischen Kinderpsychiater Richard Gardner zurück. Das »Parental Alientation Syndrome« (Elterliches Entfremdungssydrom) sei ein Zustand, in dem Kinder einen Elternteil ablehnen würden, weil sie zuvor vom anderen Elternteil aufgehetzt worden seien. Trotz der theoretisch geschlechtsneutralen Formulierung machte Gardner deutlich, dass er vor allem Mütter der Manipulation ihrer Kinder bezichtigt.

Gardners Syndrom ist weder von der Weltgesundheitsorganisation noch von psychiatrischen und psychologischen Fachorganisationen anerkannt. Diese betonen vielmehr, dass es keinerlei wissenschaftliche Belege für die Eltern-Kind-Entfremdung gebe und dass das Syndrom zu viel Gewicht in Sorgerechtsstreitigkeiten bekomme. Selbst Gardner gab zu, dass es sehr wenige Fälle von Falschbeschuldigungen hinsichtlich häuslicher Gewalt gab, was ihn aber trotzdem nicht davon abhielt, seine frauen- und kinderfeindlichen Haltungen weiter in pseudowissenschaftlichen, selbst veröffentlichten Büchern zu verbreiten.

Eltern-Kind-Entfremdung ist die Ausformulierung des Stereotyps der hinterhältigen und manipulativen Mutter, die unterstützt vom Feminismus arglose Männer schädigt. Es überrascht daher wenig, dass Gardners »Theorie« bei näherer Betrachtung auf antifeministischem und antisemitischem Verschwörungsdenken beruht. Seine Ansichten zu sexuellen Übergriffen von Vätern auf ihre Kinder kann man darüber hinaus nur als abstoßend bezeichnen.

In seinen Werken empfiehlt Gardner etwa Müttern, mit ihren pädosexuellen Ehemänner öfter Sex zu haben, damit der Mann weniger Anlass hätte, seine Kinder zu missbrauchen. Sexuelle Übergriffe von Männern auf Kinder seien außerdem überzogen stigmatisiert: Man sollte betroffenen Kindern vermitteln, dass sexuelle Gewalt durch Männer eigentlich normal sei, alles andere würde die Kinder traumatisieren. An dem übermäßigen Moralaposteltum gegenüber sexuell gewalttätigen Männern seien, wie sollte es anders sein, jüdische Traditionen Schuld.

So schreibt Gardner 1992, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder in allen Gesellschaften der Antike akzeptiert gewesen sei, außer im Judentum. Christliche Gelehrte hätten die Bestrafung sexueller Gewalt aus jüdischen Schriften übernommen, wodurch schließlich in westlichen Gesellschaften pädosexuelle Männer kriminalisiert würden, während anderswo auf der Welt sexuelle Gewalt gegen Kinder als ganz natürlich und normal betrachtet würde. (Darin findet sich natürlich, neben allen anderen Unsäglichkeiten, das rassistische Bild des edlen, von jüdischen Einflüssen freien Wilden in den Kolonien, der seinen Kindern sexuelle Gewalt antut.)

Die Theorie, dass Mütter Kinder »entfremden« würden, stammt also aus der Feder eines reaktionären Pseudowissenschaftlers, der frigiden Müttern und einer sexfeindlichen Gesellschaft die Schuld für Übergriffe auf Kinder gibt. Väterrechtliche Lobbyvereine und ihre Freund*innen zitieren gerne aus Gardners Werken, um ihre antifeministische Agenda mit vermeintlicher Wissenschaftlichkeit zu unterstreichen. Was sie von dessen Haltungen zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Frauen halten, sagen sie lieber nicht.

Wolfgang Hammers Studie stellt in diesem Zusammenhang fest, dass Jugendämter insbesondere Müttern dann nicht glauben, wenn diese von sexuellen Übergriffen durch den Vater auf sich oder ihre Kinder berichten. Wie auch in anderen Bereichen der Gesellschaft findet also auch im Falle von Sorgerechtsstreitigkeiten eine absurde Täter-Opfer-Umkehr statt. Rechtsbeistände raten Müttern gelegentlich gar davon ab, dem Jugendamt von Gewalt durch den Vater zu berichten, da das als Manipulationsversuch gedeutet werden kann.

Antifeministischer Backlash

Väterrechtliche Organisationen haben die Arbeit der Jugendämter also erfolgreich mit antifeministischen Narrativen unterfüttert – die in einer misogynen Gesellschaft natürlich leichter Anklang finden als eine feministische Analyse.

Das Recht von Vätern, ihre Kinder zu sehen, wird als zentral für das Kindeswohl gesetzt, egal, ob diese Väter gewalttätig sind. Es braucht keine hellseherischen Fähigkeiten, um vorherzusagen, welche Männer ein besonderes Interesse haben dürften, das Hilfesystem zu nutzen, um das Leben ihrer Ex-Partnerinnen zu kontrollieren. Väterrechtlern geht es also mitnichten um das Kindeswohl, sondern um Täterschutz und die Verteidigung männlicher Dominanz in Familien und in der Gesellschaft. Sie nutzen, wie für Antifeministen üblich, die »armen Kinder«, um die Anliegen von Frauen als schädlich und überzogen darzustellen.

Man fragt sich zum Beispiel, warum sich Väterrechtler nicht damit beschäftigen, dass die Hälfte aller getrennten Väter ihrer Unterhaltspflicht nicht nachkommen. 2018 erhielten gut 800.000 Kinder Unterhaltsvorschuss durch die Jugendämter. Das passt nicht zur antifeministischen Opferhaltung und dem vorgeschobenen Interesse am Kindeswohl. Was auch verwundert ist, dass Väter, die sich weigern, ihre Kinder zu sehen, nicht mit Polizeigewalt gezwungen werden, diese zu treffen, wenn ihre Abwesenheit tatsächlich so schädlich für Kinder ist. Es scheint nur um das Kindeswohl zu gehen, wenn Väter etwas davon haben.

Dass deutsche Behörden einen antifeministischen Backlash erleben, zeigt sich auch an der zunehmenden Fokussierung auf die vermeintliche Wichtigkeit der Vater-Mutter-Kind-Konstellation für das Kindeswohl – ungeachtet dessen, ob die Elternteile tatsächliche Bezugspersonen des Kindes sind. Diese Annahme setzt die Kleinfamilie mit heterosexuellen Eltern als »gesunde Norm«, weswegen Vätern unbedingt Kontakt gewährt werden muss, wenn sie (!) das wollen. Queere Familien und/oder Familien mit mehr als zwei Elternteilen sind aus dieser Perspektive per se der Kindeswohlgefährdung verdächtig. Es entspricht der aktuell zunehmenden Stimmung in der Gesellschaft, dass feministische Themen und queere Menschen eigentlich schädlich für den gesunden deutschen Volkskörper sind. Die Absicherung von Männerrechten fügt sich also auch im Kontext von Sorgerechtsstreitigkeiten in den weiteren antifeministischen, reaktionären Backlash ein.

Bilke Schnibbe

war bis Oktober 2023 Redakteur*in bei ak.

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