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|ak 673 | Alltag

Gemeinsam auf Klassenreise

Vom Klassismus-Begriff fühlen sich viele angesprochen – das ist seine größte Stärke und Schwäche zugleich

Von Sebastian Friedrich

Nicht bloß Ideologie: ohne Reichtum keine Ausbeutung, ohne Ausbeutung keine Klassenverhältnisse. Foto: Kārlis Dambrāns/Flickr, CC BY 2.0

Wer bis vor wenigen Jahren »Klassismus« bei Google eingab, bekam die Frage gestellt, ob nicht eigentlich der Begriff Klassizismus gemeint sei. Dass Google mittlerweile Klassismus kennt, hängt mit einer zunehmenden Auseinandersetzung mit dem Phänomen in den Medien, dem Eingang des Begriffs in Inklusions- und Diversity-Politiken und mit der Selbstorganisierung von Arbeiter*innenkindern etwa im Bildungsbereich zusammen. An Hochschulen gibt es inzwischen mehrere Antiklassismus-Referate, die Anlaufstellen für Arbeiter*innenkinder sind und Ungleichheit im Bildungssystem kritisieren: 2003 gründete sich ein solches Referat in Münster. Marburg, Köln und München haben nachgezogen, weitere sind in Planung.

Selbst SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz twitterte im Oktober 2020, progressive Politik müsse auch den Klassismus ansprechen, »also den Mangel an Respekt gegenüber vielen, die hart arbeiten«. Es gehe ihm, so schrieb er später in der FAZ, um Respekt und Anerkennung auf allen Ebenen, gegen Rassismus, Sexismus und Klassismus. (FAZ, 1.3.21)

Nicht alle sind so begeistert von diesem Konzept. Gerade von marxistischer Seite gibt es viel Kritik. Lena Hezel und Steffen Güßmann machen in der Z, der Zeitschrift Marxistische Erneuerung (Nr. 126, Juni 2021), begriffliche Unschärfen aus, David Pape beklagt die fehlende Befassung mit Ursachen für Ungleichheit. (junge Welt, 2.1.21) Die Wildcat (Nr. 108, Sommer 2021) findet das Klassismus-Konzept gar regressiv, weil keine revolutionäre Perspektive aufgezeigt werde.

Ein Ausflug in den Klassismus-Diskurs zeigt: Es ist bereits uneindeutig, was unter dem Begriff zu verstehen ist. Es gehe, wie es in der ersten Einführung zu Klassismus von Andreas Kemper und Heike Weinbach aus dem Jahr 2009 heißt, »in erster Linie um die Beschreibung der Phänomene von Klassismus und die Sensibilisierung für neue Sehweisen, weniger um begriffliche Schärfe und starre Definitionen«. Ähnliche Formulierungen finden sich auch in jüngeren einschlägigen Klassismus-Publikationen.

Dennoch hat sich in der deutschsprachigen Debatte zwischenzeitlich durchgesetzt, Klassismus als Diskriminierung aufgrund der Klassenherkunft oder der Klassenzugehörigkeit zu fassen. Unter diesem sehr weiten Verständnis von Klassismus fallen sowohl die schlechtere Stellung von Arbeiter*innenkindern als auch die Situation von Hartz-IV-Bezieher*innen. Weniger deutlich ist hingegen, ob auch andere Lohnabhängige von Klassismus betroffen sind: Industriearbeiter*innen, Beschäftigte im Dienstleistungssektor oder hoch qualifizierte Angestellte.

Fragliches Klassenkonzept

Diese Unklarheit ist auf ein fragliches Verständnis von Klasse zurückzuführen. Neben Pierre Bourdieus durchaus sinnvoller Kapitaltheorie orientiert sich das Klassismus-Konzept an US-amerikanischen Klassenbegriffen, die zwischen Ruling Class, Owning Class, Middle Class, Upper-Middle-Class, Lower-Middle-Class, Working Class und Poor People unterscheiden. Aus Schichten und Fraktionen der Klasse der Lohnabhängigen werden viele unterschiedliche Klassen; der Aufstieg aus »einfachen Verhältnissen« zur lohnabhängigen Akademikerin wird so zur »Klassenreise«.

Dieser Klassenbegriff ähnelt bürgerlichen soziologischen Schichtmodellen. So fasst Karl Martin Bolte in seiner berühmten Bolte-Zwiebel die Bevölkerung entlang des Bildungsstands, der Höhe des Einkommens und ihrer Berufe. Die Gesellschaft sei entsprechend einzuteilen in Oberschicht, obere Mittelschicht, mittlere Mitte, untere Mitte, unterste Mitte/oberes Oben, Unten und sozial Verachtete. Vergleichbar ist das ebenfalls in den 1960er-Jahren entwickelte Dahrendorfhäuschen des Soziologen Ralf Dahrendorf, der – ein wenig materialistischer – zwischen Elite, Dienstklasse, Mittelstand, falschem Mittelstand, Arbeiterschicht, Arbeiterelite und Unterschicht unterscheidet.

Innerhalb der materialistischen Klassenanalyse wiederum ist heute umstritten, ob noch von einer zwar fraktionierten Klasse der Lohnarbeiter*innen oder eher von unterschiedlichen Lohnarbeiter*innenklassen ausgegangen werden kann. Hier werden – im Gegensatz zu bürgerlichen Schichtmodellen und zum Klassismus-Diskurs – Klassen aber weiterhin als Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit gedacht. Ausbeutung ist bei einer materialistischen Auffassung von Klasse der Dreh- und Angelpunkt für Klassenverhältnisse und somit auch für Produktions- und Eigentumsverhältnisse.

Ausbeutung, also die Aneignung des von den Lohnabhängigen geschaffenen Mehrprodukts durch die Kapitalist*innen, spielt im Klassismus-Diskurs eine untergeordnete Rolle. Zwar wird vereinzelt der Begriff verwendet, allerdings bleibt der Produktionsprozess in der Analyse des Klassismus und in antiklassistischen Perspektiven eigenartig unterbelichtet. Stattdessen geht es eher um Einkommens- und Vermögensungleichheit, also um die Marktchancen der Lohnabhängigen.

Entsprechend wenig Worte verliert der Klassismus-Diskurs über Arbeitskämpfe oder die kollektive Gegenwehr, Gewerkschaften, Parteien. So verwundert es auch nicht, dass in Verteidigung des Klassismus-Konzepts in der Zeit zu lesen zu war, es gebe Armut, weil die Gesellschaft sich einig war, dass manche Menschen nicht mehr verdienten als Armut. »Wäre das Prekariat beliebt, wäre es kein Prekariat. So einfach.« (Zeit, 11.3.21) Der strukturelle und notwendige Zusammenhang von Armut und Reichtum weicht hier der bloßen Zuschreibung von Eigenschaften von Gruppen. Die ideologische Rechtfertigung der Klassengesellschaft wird so einfach zur eigentlichen Ursache der Existenz von Klassen erklärt.

Kein Kapitalismus ohne Produktionsverhältnisse

Ohne die Analyse des Produktionsprozesses, der Eigentumsverhältnisse, der Ausbeutung und der ungleichen Verteilung von Arbeit innerhalb der Lohnabhängigen geraten die Ursachen für Klassen im Kapitalismus aus dem Blick. Der Reichtum der einen resultiert aus der Ausbeutung und der Armut der anderen – und ja, die einen Lohnabhängigen dürfen planen und kommandieren, erhalten mehr Geld und Anerkennung, während die anderen nur ausführen dürfen, jeden Cent zweimal umdrehen müssen und nicht einmal ein müdes Lächeln bekommen. Wer Klasse aber auf Schichten und Milieus reduziert, läuft Gefahr, die kapitalistischen Verhältnisse zu akzeptieren, statt sie zu verstehen und abschaffen zu wollen.

Kürzlich bekam der Klassismus-Diskurs Unterstützung von ungewöhnlicher Seite: von Rainer Zitelmann. Er war erst Maoist, dann Autor der Neuen Rechten, später wurde er durch Immobilienspekulationen zum Millionär und lässt sich heute gerne mit »I love capitalism«-Shirt fotografieren. Zitelmann betätigt sich nebenbei als Reichtumsforscher und hat das vielleicht am meisten beachtete deutschsprachige Buch über Klassismus geschrieben. In »Die Gesellschaft und ihre Reichen. Vorurteile über eine beneidete Minderheit« fasst er Stereotype gegen Reiche als eine Form des »upward classism«, ein Begriff aus der US-amerikanischen Debatte. Zitelmann gelingt es, den Klassismus-Begriff zu kapern, weil es ihm das Konzept mit dem weiten Begriff von Klasse leicht macht.

Mit Blick auf den Klassenbegriff lässt sich die Kritik am Klassismus-Konzept nicht leichtfertig vom Tisch wischen, dennoch bietet das Konzept Chancen.

Bei Klassismus sollte es vor allem darum gehen herauszufinden, warum die verschiedenen Fraktionen der Lohnabhängigen nicht zu einem gemeinsamen Kampf finden.

Zusammen denken und handeln

Zumindest im akademischen Bereich, wo jahrzehntelang alles links der Bolte-Zwiebel oder des Dahrendorfhäuschens verbannt wurde, kam auch durch Konzepte wie Intersektionalität oder Klassismus der Klassenbegriff wieder zurück in die Seminare und in die öffentliche Auseinandersetzung. Das bietet die Möglichkeit, dass sich Menschen, die bisher nicht in Berührung mit materialistischer Gesellschaftsanalyse gekommen sind, über Klassismus irgendwann mit Klassenherrschaft, Klassengesellschaft und dann auch mit Ausbeutung und Eigentumsverhältnissen befassen. Der Klassismus-Debatte mit allwissendem Marxismus zu begegnen, dürfte den Weg zu einem materialistischeren Verständnis von Klasse aber nicht gerade erleichtern.

Für das Klassismus-Konzept spricht außerdem: Es bietet auf mikroanalytischer Ebene einige Anküpfungspunkte, um zu verstehen, wie Klasse ständig ideologisch und im Alltagshandeln reproduziert wird. Klassismus kann, wie Nelli Tügel in ak 666 in einem der wenigen zwischen Marxismus und Antiklassismus vermittelnden Beiträge geschrieben hat, den Blick dafür schärfen, wie Ausbeutung legitimiert wird. So gibt es eine Reihe lesenswerter Arbeiten zur medialen Inszenierung ärmerer Menschen. Christian Baron und Britta Steinwachs hatten etwa bereits vor knapp zehn Jahren in ihrem Buch »Faul, frech, dreist« die ideologische Abwertung von Erwerbslosigkeit durch Bild-Leser*innen erforscht. Auch in dem inzwischen in dritter Auflage erschienen Band »Solidarisch gegen Klassismus«, den Francis Seeck und Brigitte Theißl herausgegeben haben, finden sich lesenswerte Beiträge, wie Klassenunterschiede nicht nur im Jobcenter, an der Universität institutionell und in alternativen Zusammenhängen im Alltag aufrechterhalten bleiben. Ohnehin kann die Beschäftigung mit Klassismus auch für linke (Sub-)Kultur und Organisierung interessant sein: Die von Gabriel Kuhn 2009 herausgegebene Broschüre »Mit geballter Faust in der Tasche« versammelt eindrückliche autobiografische Erzählungen, die sich gegen die Dominanz von Mittelklasse-Aktivist*innen in linken Zusammenhängen richtet.

Bei Klassismus sollte es nicht vor allem um »Respekt« gehen, nicht darum, den Langzeiterwerbslosen anerkennend auf die Schulter zu klopfen. Sondern darum herauszufinden, warum die verschiedenen Fraktionen der Lohnabhängigen nicht zu einem gemeinsamen Kampf finden, warum der Facharbeiter sich eher mit dem Chef identifizieren kann, als mit der Leiharbeiterin, die eine Maschine neben ihm steht, warum es der Aufstockerin so wichtig ist, sich von den angeblich »wirklich« faulen Erwerbslosen abzugrenzen, warum auch jene, die kaum über die Runden kommen, die Schuld für die Verhältnisse bei sich suchen – oder bei Leuten, denen es noch dreckiger geht.

Ausgestattet mit einem materialistisch fundierten Klassenbegriff und eingebettet in eine klassenkämpferische Perspektive könnte der Antiklassismus ein Mittel sein, um zu verstehen, warum so viele Lohnabhängige nur noch die Ellenbogen ausfahren können, aber nicht mehr wissen, wie man die Faust ballt.

Sinnvoll kann also eine »enge« Definition sein: Klassismus als Ideologie zur Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft. Ein solcher eng gefasster Klassismus-Begriff hat zum Ziel, die Spaltungen innerhalb der Fraktionen der Klasse der Lohnabhängigen zu überwinden, anstatt sie zu vertiefen.

So verstanden dürfte es rechten Publizist*innen wie rechten Sozialdemokrat*innen schwerfallen, sich auf den Begriff positiv zu beziehen, so verstanden kann das Potenzial des Begriffs, die Mikroanalyse der Klassenreproduktion, weiter entfaltet werden. Und so betrachtet kann politisch ein Ziel verfolgt werden: gemeinsames Klassenhandeln zur Abschaffung kapitalistischer Verhältnisse.

Sebastian Friedrich

ist Journalist und Autor aus Hamburg. 2019 erschien beim Berliner Bertz und Fischer Verlag sein Buch »Die AfD. Analysen, Hintergründe, Kontroversen« in dritter und überarbeiteter Auflage.