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Aktueller denn je?

Zwei Publikationen beschäftigen sich mit der linken Militanz der Revolutionären Zellen und der Roten Zora

Von Christopher Wimmer

Der Aufstand der Letzten Generation blockiert Straße am Hauptbahnhof, Berlin, 28.01.22
Ist das militant? Straßenblockade der Aktivist*innen des »Aufstands der letzten Generation« am Berliner Hauptbahnhof im Januar 2022. Foto: Stefan Müller/Wikimedia, CC BY 2.0

Die Frage nach linker Militanz taucht aktuell immer wieder im Umfeld der Ökologiebewegung auf. Während sich die Aktivist*innen des »Aufstands der letzten Generation« betont gewaltfrei geben, wird an anderer Stelle von der Gefahr einer neuen »grünen RAF« gesprochen, was immer wieder voyeuristisch vom bürgerlichen Feuilleton aufgegriffen wird – zuletzt in Die Zeit bei einem Streitgespräch zwischen Tadzio Müller und Jürgen Trittin. Gleichzeitig geht das Bündnis Ende Gelände weiterhin mit Aktionen des zivilen Ungehorsams gegen die Klimakatastrophe vor.

Eine weitergehende Militanzdebatte gibt es – jenseits von meist isolierten insurrektionalistischen Gruppen – jedoch kaum. Und auch dort findet im bundesdeutschen Kontext jenseits vereinzelter Brandanschläge auf die Bahn und längerer Texte, die jeden Aufstand zur nächsten, nun wirklich kommenden Revolution (v)erklären wollen, wenig statt. Darüber hinaus bringt der Prozess gegen Lina E., die mit anderen zusammen organisiert und handfest Neonazis zum Stolpern gebracht haben soll, die Frage nach linkem Selbstschutz und Aktionsfähigkeit wieder auf die Tagesordnung.

Linke Militanz ist jedoch wenig verwurzelt in den Bewegungen der Zeit. Daran zu erinnern, dass dies einmal anders war, ist das große Verdienst zweier nahezu zeitgleich erschienener Bücher, die unbedingt zusammen gelesen werden sollten, da sie sich wesentlich ergänzen: Zum einen der Interviewband »Herzschläge. Gespräch mit Ex-Militanten der Revolutionären Zellen« und zum anderen das »Lesebuch« »Mili bittet zum Tanz. Auf den Spuren des militanten Feminismus der Roten Zora«. 

Die Bücher stellen lebhaft und gut zugänglich die revolutionären und militanten Zusammenhänge in der Bundesrepublik von Anfang der 1970er bis zum Beginn der 1990er Jahre dar und werfen dabei zentrale Fragen auf wie: Verhältnis von Militanz zu Bewegung, Intersektionalität, Probleme und Ängste des militanten Kampfs bzw. des Lebens im Untergrund, Gewaltfetisch, Verrat oder auch Fragen nach dem Verhältnis zwischen »bürgerlichem Leben« und »militanten Aktionen«.

Bewegungsnahe revolutionäre Politik

Wer waren die Revolutionären Zellen (RZ) bzw. die Rote Zora? Die RZ waren ein militanter Zusammenhang, der rund zwei Jahrzehnte in der Bundesrepublik aktiv war. Dabei agierten sie eng am Puls der sozialen Auseinandersetzungen und versuchten, eine bewegungsnahe revolutionäre Politik umzusetzen. Ihre Mitglieder sahen sich nicht als Berufsrevolutionäre, sondern waren selbst in zumeist autonomen Zusammenhängen aktiv und beteiligten sich an den damaligen Kämpfen wie beispielsweise der Jugendzentrums- und Häuserbewegung, der Anti-Atomkraft- oder der Startbahnbewegung in Frankfurt am Main.

Im Interviewband »Herzschläge« berichten drei ehemalige männliche Militante der RZ von ihren Erfahrungen innerhalb des Zusammenhangs. Alle sehen ihre Aktivitäten in anderen politischen Zusammenhängen als Voraussetzung an, illegal handeln zu können. Sie berichten von einer großen linken Szene, die militante Gruppen unterstützte und wo sich die Aktivist*innen bewegen konnten, wie »der Fisch im Wasser.«

Geprägt waren die RZ vom Internationalismus und vom Klassenkampf, was bereits ihre ersten Anschläge von 1973/74 deutlich machten. Ein Anschlag auf das chilenische Konsulat bezog sich auf den Putsch gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende, während Brandanschläge auf Arbeitgeberverbände, auf Spekulanten und weitere Unternehmer deutlich den sozialrevolutionären Aspekt betonen. Überdies fälschten die Mitglieder der RZ massenhaft Fahrscheine und verteilen diese an die Bevölkerung, um eine Aktion für den Nulltarif im Nahverkehr für alle zu unterstützen. Neben den militanten Aktionen war es, so berichten die ehemaligen Militanten, den RZ immer wichtig, auf »Vermassung« ihrer Aktionen zu setzen und andere einzubeziehen. Ab den 1980er Jahren erweiterten die RZ ihr Aktionsfeld nochmals, setzten entscheidende Impulse in der damaligen Geflüchtetenbewegung und unterstützten Kämpfe gegen Antiziganismus.

In der Radikalisierung von Alltagskämpfen ohne Avantgarde zu sein, darin besteht auch heute das große Potenzial militanter Kämpfe.

Das im Buch aufgezeichnete Gespräch, dem ein genaueres Lektorat und eine Straffung nicht geschadet hätten, gibt dabei nicht nur Einblicke in den Gruppenzusammenhang der RZ, sondern ist als Teil einer kritischen Aufarbeitung der eigenen Geschichte zu lesen. Es stellt unter anderem die Frage, welche Schlüsse aus den Erfahrungen der Gruppe für heutige Militante zu ziehen wären und welche Bedeutung sie für heutige und zukünftige Kämpfe haben könnten. Dabei wird ein Aspekt immer wieder erwähnt, bleibt jedoch trotzdem unterbelichtet: feministische und Kämpfe von Frauen. 

Hier füllt das zweite Buch »Mili bittet zum Tanz« die Lücke und beschäftigt sich mit der Geschichte der Roten Zora. Zunächst gab es innerhalb der RZ eigene Frauengruppen, die sich dann in den 1980er Jahren ablösten und selbstständig unter dem Namen Rote Zora agierten. Die Rote Zora betrachtete sich als Teil des »Frauenkampfs« und wollte militant feministische Themen bearbeiten. Ihre Handlungsbereiche waren der Kampf gegen den §218, Reproduktionsmedizin und Gentechnik, Sextourismus und Frauenhandel. Daneben legten sie einen Schwerpunkt auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Frauen in Ländern der sogenannten Dritten Welt. 

Widersprüche und Antizionismus

Liest man den langen Reflexionstext »Mili´s Tanz auf dem Eis« von 1993, der im Band abgedruckt ist, wird deutlich, wie vorausschauend die »Zoras« auf Rassismus, Sexismus, globalen Kapitalismus und Kolonialismus blickten – und wie deutlich informierter und klüger sie im Gegensatz zu vielen heutigen Debatten um Klassen- vs. Identitätspolitik argumentierten. Darüber hinaus zeigt das Buch durch aktuelle Stimmen zu feministischer Militanz, Veröffentlichungen der »Zora« sowie dem Abdruck von feministischen Plakaten, wie vielfältig die Rote Zora ihre Analysen im politischen Alltag durch radikal-feministische Interventionen umgesetzt und welche Wirkungen sie damit – zum Teil bis heute – erzielt hat.

Die RZ und die Rote Zora waren für mehrere Hundert Sprengstoff- und Brandanschläge und sonstige Aktionen verantwortlich. Dabei erfreuten sie sich (insbesondere im Gegensatz zur RAF) in großen Teilen der linksradikalen Szene und darüber hinaus großer Beliebtheit, da es zumeist gelang, ihre Aktionen so zu vermitteln, dass sie nachvollziehbar und verstanden werden konnten. Sehr lesenswert sind in diesem Zusammenhang die Chronologien über die Aktionen bzw. die Anschlagserklärungen der RZ/Rote Zora, die sich am Ende der beiden Bücher finden und einen Eindruck über die Breite der Aktionenformen geben – und damit auch anschlussfähig für heutige Militante werden können.

Gleichzeitig waren weder die RZ noch die Rote Zora von Brüchen und Widersprüchen frei – auch davon berichten die Bücher. Eine Gruppe aus den RZ veröffentlichte Ende 1991 ein Papier mit dem Titel »Gerd Albartus ist tot«. Sie schilderte darin nicht nur die Ermordung des RZ-Militanten Albartus durch militante Palästinenser, sondern auch die Zäsur, die die Entführung eines Flugzeuges im ugandischen Entebbe 1976 für die RZ bedeutet hatte, an der die RZ beteiligt war und bei der jüdische und nicht-jüdische Passagiere voneinander getrennt wurden. Ebenso werden Antisemitismus und Antizionismus als (mindestens latent vorhandene) Aspekte innerhalb des Zusammenhangs dargestellt. Eine große bundesweite Razzia mit mehreren Verhaftungen am 18. Dezember 1987 leitete das Anfang vom Ende der RZ/Roten Zora ein.

In ihren Aktionen knüpften die RZ/Rote Zora meist an bestehende Bewegungen an und versuchten, sich stets (militant) zu sozialen Bewegungen in Beziehungen zu setzen. In dieser Radikalisierung und Politisierung von Alltagskämpfen und -problemen von Menschen (antirassistische Kämpfe, Verhinderungen von Abschiebungen, Auseinandersetzungen mit Vergewaltigern, gezielte Angriffe auf Hintermänner und Schreibtischtäterinnen etc.) ohne Avantgarde zu sein, darin besteht auch heute das große Potenzial militanter Kämpfe. Dadurch können Bündnisse verschiedener Aktionsformen und verschiedener Zusammenhänge entstehen, ohne dass diese in ein hierarchisches Verhältnis zueinander gesetzt werden. Oder um einem RZ-Militanten aus dem Buch das Wort zu geben: »Die große Gefahr für den Staat lag und liegt aus meiner Sicht in Allianzen, die es vorher nicht gab.« Damit sind die Bücher in der Gegenwart angekommen.

Christopher Wimmer

ist Sozialwissenschaftler. Zuletzt erschien sein Buch »Die Kommunen vor der Kommune 1870/71. Lyon – Le Creusot – Marseille – Paris« bei Assoziation A (zusammen mit Detlef Hartmann).

FrauenLesbenBande (Hg.): Mili bittet zum Tanz. Auf den Spuren des militanten Feminismus der Roten Zora. Unrast, Münster 2022, 248 Seiten, 14,80 EUR.

Unsichtbare (Hg.): Herzschläge. Gespräch mit Ex-Militanten der Revolutionären Zellen. Assoziation A, Berlin, Hamburg 2022, 304 Seiten. 19,80 EUR.